Freitagabend, kurz nach 20 Uhr, ein Boxkeller in Winterthur ZH. C. D., 13 Jahre alt, Kampfgewicht 39 Kilogramm, tänzelt im Ring. Ihr Gegner ist drei Jahre älter und 10 Kilogramm schwerer. In schneller Folge schlagen sich die beiden gegenseitig auf Oberkörper und Helme. Dann landet Daniel eine ganze Serie von Treffern. C. weicht zurück. Vater und Trainer O. D. feuert seine Tochter an.
C. D. aus Widnau SG war 11, als sie zum ersten Mal bei einem Wettkampf im Ring stand. Seither hat sie über ein Dutzend Kämpfe hinter sich, meist war sie erfolgreich. Sie sagt: «Ich spüre die Schläge nicht, wenn ich unter Adrenalin stehe.» Ein überdehnter Arm, ein blaues Auge oder ein geschwollenes Gesicht könnten bei einem Kampf schon mal die Folge sein. O. D. hat mit seiner Tochter Grosses vor: «Es wäre schön, wenn sie einmal Olympiagold gewinnen würde.» Bedenken wegen der Gesundheit hat er keine: Fussball oder Skifahren seien gefährlicher.
Viele Boxclubs bieten Nachwuchstrainings an – manche schon für Kinder ab 5 Jahren. Mehr als 20 Clubs trainieren Kinder im Leichtkontakt-Boxen. Dort dürfen die Kinder nicht voll zuschlagen. Eltern müssten sich «keine Sorgen wegen der Gesundheit» machen, schreibt der Verein zur Förderung von Leichtkontakt-Boxen. Kinder ab acht Jahren dürfen an Wettkämpfen teilnehmen. Nicht wenige der Schüler wechseln später ins klassische Boxen. So auch die 20-jährige Eliana Pileggi aus Frenkendorf BL, amtierende Vize-Schweizermeisterin. Sie stieg mit sechs Jahren ins Leichtkontakt-Boxen ein und bestritt als 13-Jährige ihren ersten Kampf im klassischen Boxen.
Nikoll Collaku vom Box-Center Glattbrugg ZH wurde bereits mit zehn Jahren Junioren-Schweizermeister. Auf Facebook nennt sein Boxclub den heute 12-Jährigen «Mini-Champ» und zeigt ihn mit zum Sieg erhobenen Fäusten.
Hirnzellen von Kindern sind weniger geschützt
Ärzte sind besorgt: Der Grund sind die Schläge an den Kopf der Kinder. Neurologe Peter Zangger aus Pfaffhausen ZH ist Spezialist für Schädel-Hirn-Verletzungen. Er rät Kindern und Jugendlichen vom Boxen ab. Denn, so Zangger: «Jeder Boxhieb an den Kopf verursacht Erschütterungen des Hirns. Im Laufe der Jahre können sie in der Summe das Hirn schädigen.»
Auch im Leichtkontakt-Boxen muss man mit harten Schlägen rechnen. Das bestätigt Boxtrainer Khaybar Dadmal aus Zofingen AG: «Für Kinder ist es schwierig, die Schläge zu dosieren – vor allem in einer Stresssituation wie in einem Wettkampf.»
Bei Kindern sind Schläge an den Kopf gefährlicher als bei Erwachsenen. Neurologe Peter Zangger sagt: «Die Schulter- und Halsmuskeln sind bei ihnen noch nicht voll entwickelt. Sie können einen Schlag an den relativ grossen Kopf weniger gut abfedern.» Die Flüssigkeitskammern, in die das Hirn gebettet ist, sind grösser als bei Erwachsenen. Deshalb schwappt das Hirn bei einem Schlag stärker gegen die Schädeldecke. Die Hirnzellen von Kindern sind zudem weniger gut geschützt. Zangger: «Schon kleine Blutergüsse und Schwellungen zerstören Millionen von Nervenzellen.»
Kinderchirurg Markus Lehner vom Kantonsspital Luzern ergänzt: «Im Kindesalter verbinden sich viele Nervenzellen im Hirn neu. Wenn das Hirn in dieser Zeit immer wieder Schläge abbekommt, können Lernschwierigkeiten und Konzentrationsstörungen folgen.» Erst im Alter von 22 Jahren gilt das Hirn als ausgewachsen.
Bereits vor über 20 Jahren untersuchte die britische Wissenschafterin Jennian Geddes die Hirne von jungen verstorbenen Boxern und stellte fest: Das Nervengewebe glich jenem von Alzheimerpatienten. Auch die Hirne von Fussballern sind oft geschädigt: Schuld sind vermutlich die Kopfbälle. Das zeigten kürzlich Forscher der schottischen Universität Glasgow.
Das Förderprogramm «Jugend + Sport» des Bundes unterstützt Boxen nicht. Grund: Der Sport lässt das Niederschlagen des Gegners zu.
Der Boxverband schreibt, Boxen stärke das Selbstbewusstsein. Doch Kinderarzt Oskar Jenni vom Kinderspital Zürich relativiert: «Selbstvertrauen kann man nicht einfach mit Hilfe einer Sportart erwerben.» Es entwickle sich durch verschiedene Faktoren, etwa durch die Beziehung zu Gleichaltrigen und Lehrpersonen, in der Familie und durch die Leistungen in der Schule.
Kinderarzt Stephan Rupp aus Einsiedeln SZ empfiehlt Mannschaftssportarten, die das Sozialverhalten fördern: «Es bringt Kindern mehr, wenn sie sich verbal wehren können statt mit Gewalt.»
Leichtkontakt-Boxen: «Harte Schläge verboten»
Stefan Käser vom Förderverein für Leichtkontakt-Boxen sagt, harte Schläge seien bei dieser Boxart verboten. Wenn ein Kind nervös sei und die Schläge nicht gut dosiere, könne der Ringrichter den Match abbrechen. Der Schweizer Boxverband schreibt, im klassischen Boxen sei «ein K.o. bei Jugendlichen eher selten». Und das Risiko für Kopf- und Hirnverletzungen relativ klein im Vergleich zu Sportarten wie Fussball. Allerdings sagt Verbandsarzt Geoffrey Delmore, sei es «offensichtlich», dass «zahlreiche ehemalige Boxer» an einer Art Demenz leiden würden, wie sie nach häufigen Schlägen gegen den Kopf auftritt.
So boxen Sie gesund
Diese Boxformen haben keine schädlichen Folgen:
- Beim Fitnessboxen schlägt man nur auf Sandsäcke oder Matratzen.
- Beim Aerobicboxen kombiniert man Bewegungen aus dem Boxen mit Musik.
- Der Berner Fitnessexperte Niklaus Jud sagt: «Diese Boxformen sind ein gutes und effizientes Ganzkörpertraining.» Denn beide Sportarten trainieren Schnelligkeit, Reaktion, Koordination und Ausdauer.