Pascal Müller Greber aus Gränichen AG wollte nach Jahren wieder einmal bouldern. Dabei klettert man ohne Seil einige Meter hoch und lässt sich dann auf eine Matte fallen. Anfang 2022 begab sich Müller nach Aarau in eine Boulderhalle. «Keine Sekunde dachte ich bei dieser geringen Kletterhöhe an ein Risiko», erinnert sich der 42-Jährige. Griff um Griff kletterte er in die Höhe. Als seine Füsse etwa einen Meter über dem Boden baumelten, liess er sich fallen.
Dabei passierte es: Beim Landen auf der Matte überstreckte sich Müllers linkes Knie. Der Schienbeinkopf brach ein, das hintere Kreuzband und das Aussenband rissen vollständig. «Ich litt an höllischen Schmerzen», erzählt Müller. Noch am gleichen Abend operierten ihn die Ärzte: Sie fixierten sein Knie mit Platten und Schrauben. Zurzeit ist er ein weiteres Mal im Spital: In einem mehrstündigen Eingriff rekonstruierten die Chirurgen seine Bänder.
Kletterunfälle haben sich vervielfacht
Pascal Müllers Unfall ist kein Einzelfall. Eine Statistik des Unfallversicherers Suva zeigt: Im Jahr 2010 verletzten sich beim Bouldern in Hallen 40 Personen – 2019 waren es bereits deren 1320. Selbst im Jahr 2020, als die Hallen aufgrund des Corona-Lockdowns wochenlang geschlossen waren, ereigneten sich 1300 Unfälle. Besonders oft kommt es dabei zu Verletzungen an den Füssen, Fingern oder am Rücken.
Hallen informieren nicht über Verletzungsrisiken
Die starke Zunahme von Unfällen lässt sich nicht allein mit der wachsenden Beliebtheit des Boulderns erklären. Viele Betreiber der Hallen schenken der Sicherheit zu wenig Beachtung. Das zeigt die Gesundheitstipp-Stichprobe in zehn Boulderhallen in der Deutschschweiz. Experte Maximilian Schwenk, ausgebildeter Routenbauer und Sicherheitschef einer grossen Boulderhalle in Deutschland, beurteilte die Instruktion durch das Personal, die Sicherheit der Matten, der Routen und Griffe (siehe Tabelle im PDF). Schwenk untersuchte zudem das Angebot für Kinder und die Routen für Anfänger und Fortgeschrittene.
Die Stichprobe zeigt: In den Boulderhallen hapert es bereits bei der Instruktion. Kein einziger Hallenbetreiber informierte die Testperson über die Verletzungsrisiken. Vielmehr galt: Jeder darf bouldern, Vorkenntnisse oder ein Kurs sind nicht nötig. An sich bieten alle Hallenbetreiber Kurse für Anfänger an – nur wies keiner von ihnen am Empfang darauf hin.
Gesundheitstipp-Experte Maximilian Schwenk sagt: «Gerade bei Anfängern wäre es wichtig, auf Einsteigerkurse und Verletzungsrisiken hinzuweisen.» In solchen Kursen lernt man, über spezielle Griffe hinunterzuklettern oder wie man sicher auf die Matte fällt. Der Experte richtete daher ein besonderes Augenmerk auf die Matten. «Sie müssen in einem tadellosen Zustand sein.» Das bedeutet: Vor jeder Kletterwand sollte eine grosse, durchgehende Matte liegen, die sich nicht verschieben lässt. Und sie muss Kletterer beim Aufprall möglichst gut schützen. Das ist dann der Fall, wenn sie sowohl aus einer harten als auch einer weichen Schicht besteht, wie Schwenk erklärt: «Die weiche Schicht gibt nach und sorgt dafür, dass keine Gelenke umknicken. Die harte Schicht verteilt die Kraft des Aufpralls auf die gesamte Fläche.»
«Einzelmatten sind gefährlich»
Bei den Matten zeigten sich in fast jeder zweiten Boulderhalle Probleme. In den Hallen Bimano in Bern, O’Bloc in Ostermundingen BE und B2 in Pratteln BL lagen zum Teil Einzelmatten herum. Im Bimano lagen diese sogar über einer durchgehenden, gut gepolsterten Matte. «Einzelmatten sind gefährlich», sagt der Experte. Fällt ein Kletterer auf den Mattenrand oder daneben, riskiert er Verletzungen am ganzen Körper. Oder noch schlimmer: Zieht jemand die Matte weg und realisiert nicht, dass in der Höhe eine andere Person klettert, «prallt diese ohne Schutz auf den Boden», sagt Schwenk. Er rät deshalb generell von Einzelmatten ab.
In der Berner Bimano-Halle bemängelte der Experte zudem einen grossen Spalt zwischen der durchgehenden Matte und der Kletterwand: «Wer an der Wand abrutscht, landet mit dem Fuss direkt im Zwischenraum.» Die möglichen Folgen sind abgeknickte Knöchel und gerissene Bänder.
Das Kletterzentrum in Tägerwilen TG zeigt, dass es auch anders geht: In der Halle liegt eine grosse, durchgehende Matte. Sie schliesst direkt an die Kletterwand an – ohne Zwischenraum. «Diese Halle macht bei der Mattenqualität keine Abstriche», lobt Schwenk. «Das ist vorbildlich.»
«Grosses Risiko» bei einigen Routen
Der Experte prüfte bei der Stichprobe auch die Kletterrouten in den Hallen. Das heisst: Wo und in welcher Reihenfolge haben die Routenbauer die Klettergriffe an die Wand geschraubt? Dabei zeigte sich: Problematisch sind insbesondere Routen am Rand der Kletterwand. In sechs von zehn Hallen war mindestens eine Aussenroute mangelhaft. Entweder war die Matte darunter nicht gross genug oder es lagen Gegenstände in Mattennähe, sodass man bei einem Sturz hätte darauffallen können.
In der Boulderlounge in St. Gallen und in der Berner Bimano-Halle versperrten zudem ein gespanntes Balanceseil beziehungsweise eine Aluminiumleiter den Zugang zum Feuerlöscher. Im Kletterzentrum im Thurgau war am Tag der Stichprobe eine Route am Rand der Wand so geschraubt, dass man bei einem Sturz auf Heizungsrohre und den Verstärker einer Musikanlage hätte fallen können. Und im Quadrel in Domat/Ems GR drohte der Sturz auf eine exponierte Treppenkante. Urteil des Experten: «Diese Kletterrouten sind ein grosses Risiko.» Dabei wäre die Lösung einfach, sagt Schwenk: «Routen am Rand darf der Hallenbetreiber nur so bauen, dass der Boulderer gefahrlos auf der Matte landet.»
Wichtig für die Sicherheit beim Bouldern sind auch die Griffe. Hier zeigten sich in der Boulderlounge in St. Gallen mehrere Mängel. So war über dem Durchgang eines Kletterfelsens ein Griff fehlerhaft angeschraubt: «Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich hier jemand an der scharfen, abstehenden Griffkante den Kopf anschlägt», sagt der Experte.
Zudem bemängelte er zwei grossflächige Griffe im unteren Wandbereich: «Wer oberhalb von diesen Griffen beim Klettern abrutscht, knallt auf sie drauf.» Weiter fand er in der Bouderlounge eine sogenannte Fingerfalle. Diese entsteht, wenn der Routenbauer unabsichtlich zwei Griffe so nahe aneinanderschraubt, dass eine enge Lücke entsteht. Das Problem: Stürzt der Kletterer ab, bleibt sein Finger darin hängen und knickt ab.
Kletterbereich für Kinder oft nicht abgetrennt
Bis auf das Kletterzentrum Milandia in Greifensee ZH und das Bouba in Baden AG bieten die meisten Hallen auch Bereiche für Kinder an. Allerdings sind sie oft nicht abgetrennt. Was dies für die Sicherheit heisst, zeigte sich in der Boulderlounge in St. Gallen: Bei der Stichprobe rannten Kinder auf der Matte herum, während über ihnen Boulderer kletterten. Auch das ist gefährlich: «Bei einem Sturz können die Kletterer auf dem Kind landen», so der Experte. Darum gab es für ungenügend abgetrennte Kinderbereiche einen Bewertungsabzug. Anders im Bimano in Bern und im O’Bloc in Ostermundingen BE: Sie verfügten über einen klar abgetrennten Kinderbereich.
Im Milandia in Greifensee ZH stellte der Experte vor einer Wand ein Durcheinander fest: Griffe und Kisten lagen auf der Matte verteilt, eine Leiter stand an der Wand – und das alles ohne Absperrung. Auch dafür gab es Abzüge: «Herumliegende Sachen auf den Matten sind gefährlich», sagt Schwenk.
Einzig in der Halle Minimum Leutschenbach in Zürich zeigten sich bis auf Mängel bei der Instruktion und einen ungenügend abgetrennten Kinderbereich keine Probleme bei der Sicherheit. Deshalb schnitt diese Halle in der Stichprobe am besten ab.
Das Fazit des Experten: «Bouldern ist nicht gefährlicher als andere Sportarten. Trotzdem sollten die Betreiber der Hallen alles dafür tun, dass es möglichst zu keinen Verletzungen kommt.»
Einige Boulderhallen wollen nachbessern
Die Halle Bimano in Bern schreibt dem Gesundheitstipp, Einzelmatten würden die Fallhöhe reduzieren. Den Spalt zwischen Matte und Kletterwand wolle man im kommenden Sommer beseitigen. Mit den Routen am Rand der Wand habe es bisher keine Probleme gegeben. Man bedaure, dass bei der Stichprobe eine Leiter in der Nähe einer Matte gestanden sei.
Das O’Bloc in Ostermundingen BE sagt, die eingesetzten Einzelmatten würden wegen der weicheren Landung mehr Komfort bieten und das Bouldern in der Natur simulieren. Man arbeite aber zurzeit an einem neuen Mattensystem.
Das B2 in Pratteln BL hält fest, die bemängelte Matte komme nur bei kurzen vertikalen oder flachen Wänden zum Einsatz. Wer hier stürze, lande auf den Füssen und federe den Aufprall mit den Beinen ab. Man habe daher an diesen Stellen einen stabileren Weichboden verbaut. Einzelmatten setzte man je nach Sicherheitsbedürfnis und Gewicht der Besucher ein.
Das Quadrel in Domat/Ems GR schreibt, man werde die bemängelte Route anpassen, falls ein Sicherheitsrisiko bestehe. Das Kletterzentrum Milandia in Greifensee ZH teilt mit, dass es Routenbauer anweise, während des Baus den betroffenen Bereich zu sperren. Die Halle biete keinen abgetrennten Kinderbereich, weil Kinder beaufsichtigt werden müssten. Auch das Minimum Leutschenbach in Zürich sagt, dass die erziehungsberechtigten Personen beim Klettern mit Kindern in der Pflicht stünden. Man biete aber Kinderkurse an und sperre diesen Bereich jeweils ab.
Die Bolderlounge in St. Gallen schliesslich verweist auf den Verband Schweizer Boulder- und Kletteranlagen. Dieser schreibt dem Gesundheitstipp, Besucher würden die Hallen auf «eigene Verantwortung» benutzen.
«Anfänger überschätzen sich oft»
Kathrin Dettling ist Physiotherapeutin fürs Sportklettern. Sie sagt, wie sich Anfänger beim Bouldern vor Verletzungen schützen können.
Ist Bouldern ein Sport für alle?
Grundsätzlich ja. Allerdings denken viele: Ein paar Griffe hochklettern und sich von zwei Meter Höhe auf die Matte fallen lassen, das kann doch jeder.
Das stimmt also nicht?
Ein trainierter Mensch schafft das problemlos. Anders ist es bei Anfängern: Sie überschätzen beim Bouldern oft ihre körperlichen Fähigkeiten und sind dann überrascht, wenn die Handgelenke oder die Unterarme bereits nach kurzer Zeit schmerzen. Deshalb haben Einsteiger ein erhöhtes Verletzungsrisiko.
Wie lassen sich Schmerzen und Unfälle beim Bouldern vermeiden?
Wichtig ist es, vor dem Bouldern den Körper gut aufzuwärmen – besonders die Finger und die Bauch- und Rückenmuskeln. Das lernt man in einem Kurs für Anfänger, den viele Kletterhallen anbieten. Danach wählt man am besten eine einfache Route und klettert mit ein paar Griffen im unteren Wandbereich. Am besten greift man langsam – Griff um Griff. Dabei spürt man gut, wie sich die speziellen Boulderbewegungen anfühlen. Und man erkennt, was der eigene Körper leisten kann – und was eben nicht.
Die grösste Verletzungsgefahr beim Bouldern besteht beim Sturz hinunter auf die Matte. Wie lässt man sich sicher fallen?
Ich rate Einsteigern, nicht bis zur maximal möglichen Höhe zu klettern und sich nicht fallen zu lassen. Besser ist es, an den Griffen hinunterzuklettern. Den Sprung aus geringen Höhen und das Landen auf den Füssen sollte man trotzdem beherrschen. Auch das kann man in einem Anfängerkurs lernen.