Corina Camenisch hatte jahrelang Mühe, ihre Gefühle zu kontrollieren. «Kleine, an sich unbedeutende Sachen stürzten mich ins Elend», sagt die 36-Jährige aus Stäfa ZH. «Bei kleinen Freuden spürte ich hingegen eine grosse Euphorie.» Camenisch reagierte auf solche Gefühle mit einer Essstörung, zudem fügte sie sich Verletzungen bei. «Als ich dem Arzt meine innere Leere beschrieb, die ich nur durch Sucht oder Selbstverletzung aushielt, war das Gespräch rasch beendet, und ich bekam den Stempel Borderline.»
«Mangel an Sorgfalt bei den Diagnosen»
Corina Camenisch ist kein Einzelfall. Immer mehr Betroffene erleben Ähnliches. Im letzten Jahrzehnt verdoppelte sich die Zahl der Borderline-Diagnosen von 5400 auf rund 10000 pro Jahr. Das geht aus der Schweizer Spitalstatistik hervor. Doch an den Diagnosen der Psychiater gibt es Kritik. So wirft der Basler Psychologe Udo Rauchfleisch seinen Kollegen vor, sie würden ungenau arbeiten: «Als Grund für die gestiegenen Zahlen sehe ich vor allem einen Mangel an Sorgfalt bei der Diagnostik.» Die Ärzte würden zu wenig unterscheiden – zwischen der Borderline-Störung und dem emotional instabilen Persönlichkeitsstil, bei dem die Anzeichen einer seelischen Krankheit weniger ausgeprägt sind. Auch Psychiater Martin Plöderl aus Salzburg (Ö) kritisiert: «Die Ärzte stellen die Diagnose manchmal leichtfertig.»
Kritiker werfen den Psychiatern vor, sie würden die Grenze zwischen Gesunden und Kranken willkürlich ziehen. So gelten Borderline-Patienten als krank, wenn sie fünf von zehn Kriterien erfüllen. Dazu gehören emotionale Instabilität, Suiziddrohungen, Selbstverletzungen, Wut, Gefühle der Leere oder die Angst, verlassen zu werden. Der österreichische Psychologe Horst Mitmansgruber sagt, dieses starre Schema werde Betroffenen nicht gerecht. Studien hätten gezeigt, dass rund ein Drittel der Patienten die Diagnose bekamen, obwohl sie zeitweise nur zwei oder weniger Kriterien erfüllt hatten. Laut Martin Plöderl erhalten manche Betroffene die Diagnose nur aufgrund der Tatsache, dass sie sich selbst verletzen.
Caroline Gurtner, Leiterin Recovery und Sozialpolitik bei der Beratungsstelle Pro Mente Sana, ortet als Grund für dieses Problem falsche finanzielle Anreize: Ärzte können ihre Therapien nur in Rechnung stellen, wenn sie die Patienten gemäss einer vorgegebenen Klassifizierung einteilen. Für Betroffene hat das oft schwere Folgen. Caroline Gurtner sagt: «Die Diagnose Borderline-Störung wirkt stigmatisierend.» Das zeigt das Beispiel der 40-jährigen Manuela Furchner aus Romanshorn TG: «Nach der Borderline-Diagnose behandelte mich mein Umfeld ganz anders als vorher», erzählt sie. «Ich fühlte mich nicht mehr ernst genommen und ausgeschlossen.» Wegen der Diagnose bekam sie zudem Schwierigkeiten im Berufsleben: Sie verlor ihre Stelle.
Ständig gibt es neue psychische Krankheiten
Kritiker sehen hier ein grundsätzliches Problem der Psychiatrie. Die Ärzte stellen die Diagnose anhand eines Handbuchs, zum Beispiel des «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders». Es wird immer umfänglicher: Zunächst enthielt es etwa 100 Krankheiten, inzwischen sind es 374. Der dänische Arzt und Buchautor Peter Gøtzsche kritisiert: Psychiater würden ständig neue Krankheiten erschaffen. Immer mehr alltägliche Lebensprobleme wie Stress oder Trauer gälten so als Krankheiten, die mit Medikamenten behandelt werden müssten.
Der US-Arzt Allen Frances sagt zudem, im Handbuch seien die Diagnosekriterien zu breit gefasst. Dies führe zu «Epidemien» von falschen Diagnosen. Auch bei Krankheiten wie ADHS, Autismus und der bipolaren Störung gebe es oft falsche Diagnosen. Folge: «Die Ärzte behandeln viele Patienten mit Medikamenten, die diese möglicherweise nicht brauchen und die ihnen schaden.»
Fachleute wie Martin Plöderl schlagen daher eine neue Form der Diagnose vor. Sie wollen die starren Kategorien durch differenziertere Kriterien ersetzen. Dieses Vorgehen heisst «dimensionale Diagnostik». Dabei versuchen die Ärzte nicht, eine bestimmte Persönlichkeitsstörung nachzuweisen. Stattdessen beschreiben sie die konkreten Probleme des Patienten und die Ausprägung der psychischen Merkmale anhand von Skalen. Die Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel bieten seit April Sprechstunden mit dieser Methode an.
Nach mehreren Klinikaufenthalten geht es Corina Camenisch heute wieder gut: «Ich kann besser mit meinen Gedanken und Gefühlen umgehen.» Sie ist Mutter von Zwillingen, zudem arbeitet sie als Genesungsbegleiterin. Sie unterstützt und berät andere Betroffene. «Diese Aufgabe erfüllt mich sehr.»