Der Stress bei grossen Operationen belastet das Herz der Patienten: Bis 6 von 100 Patienten haben während oder nach dem Eingriff einen Herzinfarkt. Riskant sind Operationen am Bauch, an der Halsschlagader oder bei schweren Eingriffen am Skelett. Vor allem Patienten mit einem erhöhten Herzrisiko bekommen deshalb vor der Operation Betablocker verschrieben. Die Medikamente sollen den Blutdruck senken und vor einem Herzinfarkt schützen.
Diese Strategie ist bis heute in den Richtlinien der europäischen kardiologischen Gesellschaft verankert, an denen sich auch die Schweizer Chirurgen und Kliniken orientieren. Doch diese Praxis könnte in Europa Tausende Menschen das Leben gekostet haben. Zu diesem Schluss kamen letzten Sommer die Herzspezialisten Graham Cole und Darrel Francis vom St. Mary Spital in London. Im Fachblatt «European Heart Journal» sprachen sie von 800 000 möglichen Toten in Europa innerhalb von fünf Jahren. Studien, die zu den Richtlinien geführt haben, seien ungenügend oder gar gefälscht.
In der Kritik stehen vor allem die Untersuchungen des niederländischen Herzarzts Don Poldermans vom Erasmus Medical Center in Rotterdam. Seine Studien schienen zu zeigen, dass Herzpatienten – bei welcher Operation auch immer – mit Hilfe von Betablockern das Risiko für einen Infarkt senken konnten. Vor drei Jahren entliess ihn die Universität aber wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens. Eine Untersuchungskommission kam danach zum Schluss, dass Poldermans in vielen Fällen weder das Einverständnis der Patienten hatte, noch die Ergebnisse ausreichend dokumentiert wurden.
Die für Francis und Cole einzige glaubwürdige Studie kam bereits 2008 im Fachblatt «Lancet» zu einem anderen Schluss als Poldermans: Betablocker vor der Operation schaden mehr als sie nützen. Von je 5365 operierten Patienten starben 127, die keinen Betablocker bekamen – und 162, die einen schluckten. Mit Betablockern gab es also 27 Prozent mehr Todesfälle. Die Ärzte setzten den Betablocker-Wirkstoff Metoprolol allerdings in höheren Dosen als andere Chirurgen ein und auch erst wenige Stunden vor der Operation.
Verabreichung nicht mehr «routinemässig»
Obwohl die Richtlinien unter massivem Druck stehen, hält die europäische kardiologische Gesellschaft an ihnen fest. Allerdings hat sie auf der Website eine Mitteilung veröffentlicht, Herzpatienten vor Operationen nicht mehr «routinemässig» Betablocker zu verschreiben, sondern nur noch im Einzelfall. Doch das ist für Francis und Cole zu wenig: Sie fordern die Gesellschaft auf, auch diese Empfehlung sofort zu entfernen, denn sie basiere auf Fiktion.
Auch Astra Zeneca, eine Herstellerin des Wirkstoffs Metoprolol, distanziert sich von der Praxis, Betablocker vor Operationen einzusetzen. Der Wirkstoff sei für diesen Einsatz gar nicht zugelassen.
Spitäler nennen keine Zahlen
Wie viel Patienten in der Schweiz vor Operationen mit Betablockern behandelt werden, ist unklar. Zahlen dazu gibt es keine. Die schweizerische Gesellschaft für Anästhesiologie sagt zwar, Betablocker seien ihres Wissens «nie» routinemässig verabreicht worden. Eine Umfrage des Gesundheitstipp zeigt aber: Die Kantonsspitäler Aarau, Luzern und St. Gallen verschreiben ausgewählten Patienten mit Herzbeschwerden noch heute Betablocker vor grösseren chirurgischen Eingriffen. Dem Gesundheitstipp liegt zudem ein Dokument des Zürcher Stadtspitals Triemli vor, das den Einsatz von Betablockern bei «nicht-herzchirurgischen Eingriffen» vorsieht.
Bernhard Meier, Herzspezialist am Inselspital Bern, sagt, er habe den Studien «nie getraut». Man habe nur ausgesuchten Patienten vor grossen Operationen solche Medikamente verschrieben. Auch Thomas Lüscher vom Unispital Zürich sagt: «Nicht alle Patienten mit Herzproblemen bekommen einen Betablocker.» Und wenn, dann in einer niedrigen Dosis während vieler Tage vor der Operation.
Für Lüscher sind die Berechnungen von Cole und Francis «Unsinn». Das verwundert nicht: Lüscher ist seit vielen Jahren in verschiedenen Gremien der europäischen kardiologischen Gesellschaft tätig und zudem Chefredaktor ihres Sprachrohrs, des «European Heart Journal». Den Beitrag mit den Hochrechnungen von Francis und Cole hat er im Januar in der Internetausgabe des Fachblatts löschen lassen, wie er bestätigte. Eine neue Version des Beitrags sei in Bearbeitung. Francis und Cole äusserten sich nicht dazu.
In einem kürzlich publizierten Fachartikel räumt aber auch Lüscher ein: Ob selbst ein «vorsichtiges» Verschreiben von Betablockern Tage oder Wochen auch vor einer hochriskanten Operation zu empfehlen sei, «wissen wir nicht».
Lüscher sagt auch, dass es jetzt grosse Untersuchungen brauche. Im Artikel schreibt er: «Bis wir über neue Daten verfügen, (...) müssen wir auf das Urteil erfahrener Ärzte abstellen.» Auf aussagekräftige Studien will sich nun auch die europäische kardiologische Gesellschaft berufen können. Bis im Sommer will sie ihre Richtlinien überarbeitet haben.