Die Behörden stufen die Masern als eine gefährliche Krankheit ein. Teilen Sie diese Auffassung?
Ja, Masern sind potenziell gefährlich, sie haben aber bei uns in der Schweiz eine gute Prognose. Vor allem bei Teenagern kann sie zu Komplikationen führen. Gefährdet sind auch Leute mit eingeschränktem Immunsystem oder anderen Krankheiten.
Was kann denn passieren?
Oft haben Kinder mit Masern eine Bindehautentzündung und Husten. Es kann aber auch sein, dass sich die Lunge oder Teile des Gehirns entzünden.
Was spricht denn dagegen, ein Kind mit 9 und 12 Monaten gegen die Masern zu impfen, wie das die Behörden fordern?
Medizinisch gesehen spricht nichts dagegen. Das Impfen ist wichtig für Eltern, die nicht wollen, dass ihr Kind an Masern erkrankt.
Was sind die Alternativen?
Abwarten. Man kann ein Kind auch noch vor der Pubertät impfen, wenn es die Masern nicht gehabt hat. Später würden die Komplikationen der Krankheit zunehmen.
Babys, Schwangere und Schwerkranke sind von Masern massiv bedroht – hat nicht jeder die Verantwortung, sich zu impfen, um sie zu schützen?
Wir haben zwar eine Verantwortung gegenüber den Schwächsten. Wir müssen sie bestmöglich vor einer Ansteckung schützen. Dennoch muss jeder den Entscheid selber fällen, ob er sich oder seine Kinder impfen will.
Und wenn das Kind die Masern bekommt?
Wenn das ungeimpfte Kind die Masern bekommt, müssen Eltern die Quarantäne einhalten. Dann fehlt es halt drei Wochen in der Schule – aber man macht sicher keine «Masern-Partys».
Zu Beginn sind die Masern nicht zu erkennen. Das Kind scheint lediglich erkältet, es hustet und niest.
Bevor die Masern erkennbar ausbrechen, gibt es immer schon Kinder, die ansteckend sind. Wenn ein Kind erste Symptome zeigt, behält man es zu Hause.
Anthroposophische Ärzte wie Sie sagen, es könne medizinisch sinnvoll sein, dass ein Kind die Masern durchmacht. Warum?
Masern oder andere Kinderkrankheiten sind Entwicklungskrankheiten. Sie können helfen, dass nicht nur das Immunsystem reift, sondern auch Körper und Psyche des Kindes. Das zu verstehen, ist natürlich schwierig.
Die Anthroposophie vertraut auf die Selbstheilungskraft. Reicht sie bei den riskanten Masern?
Bei einem gesunden Kind reicht sie meistens. Jedes Kind hat die Kraft, sich selbst zu heilen. Wir müssen diese Selbstheilungskraft unterstützen und genau achtgeben, wo sie bedroht und überfordert ist.
Wie können Eltern ihrem Kind helfen?
Sie können die Selbstheilungskraft des Kindes unterstützen – mit Ruhe, Zuwendung, Vertrauen und einer Begleitung des Fiebers.
Was meinen Sie mit Begleitung des Fiebers?
Eltern sollten das Fieber wenn möglich nicht mit Medikamenten senken. Man kann es auch mit anthroposophischen Heilmitteln wie Ferrum Phosphoricum und Belladonna D6 etwas dämpfen. Auch Essigwickel an den Füssen können hohes Fieber in Schach halten.
Reicht das?
Auch Heilmittel wie Pulsatilla D6 helfen. Man sollte es aber nicht zu früh geben, sonst blüht der Hautausschlag nicht schön auf.
Der Ausschlag soll aufblühen? Warum ist das wichtig?
Aus meiner Sicht braucht es das. Es ist gut, wenn das Kind die Masern durchmachen kann und man nicht zu stark eingreift. Aber das wichtigste Heilmittel sind ohnehin die Eltern.
Wie muss man das verstehen?
Sie sollten präsent sein, sich zum Kind setzen, ihm genügend zu trinken geben, Wickel gegen das Fieber machen oder eine Geschichte vorlesen. So vermitteln sie dem Kind, dass es jetzt krank ist und bald wieder gesund wird.
Die Behörden stehen einem solchen Prozess sehr kritisch gegenüber: Die Risiken für das Kind seien viel zu hoch. Was sagen Sie dazu?
Ja, es ist tatsächlich eine Risikoabschätzung. Eltern sollten bereit sein, für ihr Kind da zu sein, wenn es die Masern hat. Andernfalls sollten sie ihr Kind besser gegen die Masern impfen.
Umfrage in Zürich: Impfen Sie Ihre Kinder?
Guillaume Lesage, 39
«Als Biologe weiss ich, was die Masern im Körper anrichten können. Für uns war deshalb klar, dass wir unsere Tochter impfen lassen. Meine Frau ist Ägypterin, wir reisen oft nach Ägypten. Auch deshalb haben wir alle empfohlenen Impfungen machen lassen.»
Joëlle Turrian, 44
«Ja, wir lassen nach Empfehlung der Behörden impfen. Mein Kind soll nicht an Masern sterben, wenn es sich vermeiden lässt. Allerdings ist die Impfung schon eine geballte Ladung. Und mich stört das Diktat der Pharmaindustrie: Einige Impfungen gibt es nur als Kombination.»
Brenda Schönenberger, 34
«Wir werden unsere fünf-monatige Tochter impfen lassen. Ich sehe das als Schutz – man muss das Kind nicht mit der Krankheit quälen, wenn man es dagegen impfen kann. Sorgen mache ich mir nicht, denn der Impfstoff ist seit langem erforscht und sicher.»
Marike Braun, 43
«Unsere beiden Kinder sind geimpft. Beim Sohn befolgten wir das Programm, bei der kleinen Tochter warteten wir zunächst ab. Als Arztgehilfin glaube ich, dass Impfen etwas Gutes ist. Doch vermutlich wegen kritischen Berichten hatte ich nach dem Impfen ein schlechtes Gefühl.»
Zur Person: Bernhard Wingeier
Der 58-Jährige ist Kinderarzt in der Klinik Arlesheim BL, welche die Schulmedizin mit anthroposophischen Methoden ergänzt. Er wirkt bei einem Forschungsprojekt mit, das die Impfskepsis in der Schweiz untersucht.