Gertraud Müllauer fährt seit 60 Jahren unfallfrei Auto. Die 78-Jährige aus Untersiggenthal AG wurde schon mehrmals zur verkehrstechnischen Abklärung aufgeboten. Müllauer: «Es gab nie Probleme.» Dann überwies der Hausarzt die Rentnerin im Jahr 2022 wegen hohen Blutdrucks an eine Kardiologin, die den Blutdruck «drastisch senken wollte», erzählt Müllauer. Doch verschiedene Blutdrucksenker wirkten ungenügend.
Bei mehreren Untersuchungen forschten die Ärzte nach der Ursache – ohne Befund. Die Abklärungen zogen sich über ein Jahr hin. Unter der Auflage, regelmässig ein Medikament zu nehmen, darf Gertraud Müllauer ihren Führerschein behalten. Sie nimmt das verschriebene Mittel täglich ein. Müllauer: «Doch seither leide ich an Schwindel, Übelkeit und Müdigkeit.»
«Die Untersuchung ist überflüssig»
Was Gertraud Müllauer erlebt hat, gilt für alle Autofahrer ab Alter 75: Sie müssen alle zwei Jahre von einem Arzt prüfen lassen, ob sie noch fahrtauglich sind. Der Hausarzt misst dabei die Sehstärke und die Reaktionsfähigkeit sowie die allgemeine Gesundheit. Die Kosten von rund 140 Franken müssen die Senioren selber berappen.
Jetzt zeigt eine Studie der Beratungsstelle für Unfallverhütung: Die Tests verhindern keine schweren Unfälle. Die Autoren verglichen die Unfallstatistik mit Erhebungen aus Deutschland und Österreich. In diesen Ländern gibt es keine solchen Massentests für Senioren. Das Resultat: In der Schweiz verursachen Leute im Alter von 75 bis 79 Jahren auf 100 Millionen gefahrene Kilometer rund zehn Unfälle – in Deutschland und Österreich sind es genau gleich viele.
Aus der Studie geht zudem hervor, dass der Fahrtest die Beziehung zwischen Hausarzt und Patienten belastet. 40 Prozent der befragten Ärzte bestätigten dies. Der Wiler Hausarzt Etzel Gysling, Herausgeber der Zeitschrift «Pharma-Kritik», sagt: «Die Untersuchung ist überflüssig.» Hausärzte hätten Besseres zu tun, als sich mit nutzlosen Abklärungen herumzuschlagen.
Für Experten ist klar: Ein regelmässiger Test ist nur bei Leuten sinnvoll, die im Strassenverkehr ein erhöhtes Risiko darstellen. Das sind etwa Patienten mit Augenkrankheiten oder einer beginnenden Demenz. Besonders wichtig sei es, dass die Sehkraft für die Verkehrstauglichkeit genüge, sagt Gysling. Zudem dürfe es bei bestimmten Krankheiten nicht zu plötzlichen Bewusstseinsstörungen kommen. Bei Personen, die eine Demenz haben oder deren Hirnleistung sonst beeinträchtigt ist, ist der Untersuch laut dem Hirn- und Verhaltensforscher Lutz Jäncke zwingend.
Studien weisen zudem darauf hin, dass sich Senioren gut selber einschätzen können. Die Erfahrung zeige, dass ein grosser Teil der Senioren freiwillig aufs Fahren verzichte, wenn es nicht mehr gehe, sagt Gysling. Lutz Jäncke bestätigt: «Ältere Leute sind oft sehr vorsichtige Fahrzeuglenker.» Zu diesem Schluss kam 2006 auch eine Studie des Verkehrclubs (VCS): Demnach kompensionieren ältere Autofahrer ihren Leistungsabbau, indem sie riskante Situationen im Strassenverkehr vermeiden. Viele fahren etwa bei Dunkelheit nicht oder drosseln das Tempo.
Bei der Fahrtauglichkeit plädieren viele Experten für Freiwilligkeit anstelle von Zwang. Michael Rytz, Fachleiter Verkehrssicherheit beim VCS, sagt: «Autofahrer sollten ihre Fahrtauglichkeit regelmässig hinterfragen.» Gewisse Schwächen seien leicht zu beheben, sagt er. Oft helfe bereits eine stärkere Brille.
Rytz empfiehlt älteren Autofahrern, von Zeit zu Zeit eine Fahrberatung bei einem Fahrlehrer zu buchen. Dieser beurteilt die Leistung anhand einer praktischen Fahreinheit und gibt dem Kunden eine Rückmeldung. Eine Beratung dauert etwa 90 Minuten und kostet rund 180 Franken.
So checken Sie Ihre Fahrtauglichkeit
Ältere Autofahrer, die einer oder mehreren der folgenden Aussagen zustimmen, sollten ihre Fahrtauglichkeit abklären lassen.
- Dichter Strassenverkehr und Kreisel machen mich manchmal nervös.
- In heiklen Situationen reagiere ich langsamer als früher.
- Ich habe Mühe, Verkehrsschilder rechtzeitig zu erfassen, und bin oft unsicher, welche Höchstgeschwindigkeit gilt.
- Innerorts werde ich häufig überholt.
- Es kommt vor, dass ich andere Verkehrsteilnehmer erst im letzten Moment wahrnehme.
- Im Bekanntenkreis wurde mir geraten, auf den Führerausweis zu verzichten
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