Heike Bischoff-Ferrari ist Geriatrie-Professorin am Universitätsspital Zürich. In der «NZZ am Sonntag» behauptete sie, dass über 65-Jährige täglich 1,2 bis 1,5 Gramm Eiweiss pro Kilo Körpergewicht bräuchten. Nur so liessen sich Muskelschwund, Stürze und Knochenbrüche vermeiden. Diese Menge sei «allein über die Ernährung oft nicht zu schaffen», liess sie sich zitieren. Deshalb seien Präparate nötig. Bischoff-Ferraris Aussage liegt weit über bisherigen Empfehlungen von Fachleuten. Für Senioren 1 Gramm Eiweiss pro Kilo Körpergewicht – so lautet der Rat der Gesellschaft für Ernährung.
Unabhängige Experten kritisieren Bischoff-Ferraris Empfehlung. Der Arzt und Apotheker Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber des deutschen «Arzneimittel-Telegramms», sagt: «Es gibt keine aussagekräftigen klinischen Studien, die dies ausreichend belegen.» Er bezweifelt, dass die regelmässige Einnahme von Eiweisspräparaten automatisch zu mehr Muskelmasse führt. Und der Basler Arzt Urspeter Masche sagt: «Es ist unklar, ob hohe Eiweissmengen Stürze und Knochenbrüche verhindern können.»
Die Studien, auf die sich Bischoff-Ferrari beruft, sind zum Teil von der US-amerikanischen Milchindustrie und von Herstellern von Nahrungsergänzungsmitteln finanziert. Eine kanadische Studie etwa kam zum Schluss, dass sich Muskeln von alten Männern am besten aufbauten, wenn sie 40 Gramm Eiweiss bekamen. Die Studie wurde über das US-amerikanischen Dairy Research Institute finanziert. Es will die Nachfrage nach Milchprodukten stärken.
Weiteres Beispiel: Internationale Forscher erarbeiteten an einem Treffen Empfehlungen für den Eiweissbedarf von Senioren. Ergebnis: Über 65-Jährige sollten bis 1,5 Gramm Eiweiss pro Kilo Körpergewicht zu sich nehmen. Nestlé finanzierte das Meeting. Und die Autoren erhielten Gelder von Eiweisspulver-Herstellern, darunter Fresenius Kabi. Auffallend: Bischoff-Ferraris Klinik für Geriatrie empfiehlt Präparate von Nestlé und Fresenius Kabi.
0,8 Gramm Eiweiss reichen aus
Eine aktuelle unabhängige Studie kommt zu einem anderen Ergebnis. Die Studienteilnehmer bekamen je 0,8 oder 1,3 Gramm Eiweiss täglich. Nach einem halben Jahr zeigten sich bei Muskelkraft und Wohlbefinden keine Unterschiede. 0,8 Gramm reichten aus, um kräftige Muskeln zu behalten. Dies ist auch ohne Präparate möglich. Die Gesellschaft für Ernährung empfiehlt täglich drei Milchprodukte und eine zusätzliche Eiweissportion, etwa Fleisch, Fisch, Ei oder Tofu.
Heike Bischoff-Ferrari schreibt, es sei tatsächlich nicht belegt, dass Eiweiss das Risiko für Stürze und Knochenbrüche senkt. «Es fehlt eine grosse, unabhängig finanzierte Studie.» Im Juni will sie eine eigene Untersuchung starten, die der Nationalfonds finanziert. Laut Bischoff-Ferrari fragen Hausärzte oft nach einer Auswahl an Produkten. Daher habe die Klinik auf der Website die «gängigsten und neutralen Molkepulver-Produkte» zusammengestellt, die man unters Essen und Trinken mischen kann. «In einer Broschüre informieren wir aber auch, wie man über die Ernährung mehr Eiweiss aufnehmen kann.»
Fresenius Kabi sagt, sie unterstütze Studien, welche die Bedeutung von Proteinen für die Ernährung insbesondere von Senioren untersuchen. Sie nehme keinen Einfluss auf Studien und Autoren. Nestlé schreibt, man fördere Initiativen gegen Mangelernährung bei älteren Leuten.
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