Vor einigen Jahren hatte der Nachbar von Ilana Cohen einen Herzinfarkt. «Ich erschrak und hatte Angst, dass mir das auch passiert», sagt die Zürcherin. Um sich zu schützen, schluckt sie jeden Tag ein Aspirin – obwohl sie gesund ist. Wie Cohen geht es vielen: Sie nehmen Aspirin, um einen Infarkt oder einen Schlaganfall zu verhindern (siehe Umfrage unten).
Die Präparate heissen zum Beispiel Aspirin Cardio, ASS Cardio Mepha oder Cardioral. Sie enthalten 75 respektive 100 Milligramm Acetylsalicylsäure, fünfmal weniger als ein Aspirin gegen Kopfschmerzen. Der Wirkstoff verhindert, dass Blutplättchen verklumpen und so die Gefässe verstopfen. Gesundheitstipp-Arzt Thomas Walser sagt: «Die Ärzte verschreiben es vielen Patienten.»
Gemäss dem Branchenverband Interpharma gingen 2017 in der Schweiz 1,9 Millionen Packungen Blutverdünner über den Ladentisch. Auch beim Gesundheitstipp-Beratungstelefon rufen viele deswegen an: Im Durchschnitt hat jeder zehnte Anrufer eine Frage zu Pillen wie Aspirin Cardio.
Experten sind der Ansicht: Wer noch nie einen Infarkt hatte, verzichtet besser darauf. Franz Messerli, Herzarzt an der Universität Bern, sagt: «Aspirin eignet sich in solchen Fällen nicht.» Das Risiko für Nebenwirkungen wie Blutungen sei viel höher als der mögliche Nutzen, wenn Gesunde die Tabletten über lange Zeit nehmen würden.
«So gesehen kann Aspirin sogar schädlich sein», sagt Messerli.
Anlass für solche Aussagen sind drei neue Studien. Eine davon untersuchte Menschen mit leicht erhöhtem Risiko für Herzkrankheiten: 12 500 Patienten hatten fünf Jahre lang entweder Aspirin oder ein Scheinmedikament (Placebo) geschluckt. Fazit: Aspirin schützte nicht besser vor Herzinfarkt und Schlaganfall als das Placebo.
An einer weiteren Studie nahmen 15 500 Patienten mit Diabetes teil. Sie haben ein höheres Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle. Zwar sank ihr Risiko, dafür litten sie häufiger an Nebenwirkungen wie Blutungen. «Nutzen und Risiko halten sich die Waage», heisst es in der Studie.
Eine dritte Studie zeigte, dass Aspirin gesunden Menschen schaden kann. Die Forscher untersuchten 19 000 über 70-jährige, gesunde Leute. Das Resultat: Wer täglich Aspirin nimmt, hat ein höheres Risiko, frühzeitig zu sterben. Zudem starben Teilnehmer häufig an Krebs. Ab dem dritten Jahr mit täglichen Tabletten stieg das Krebsrisiko stetig an. Das ist besonders frappant, weil frühere Studien vermuten liessen, Aspirin schütze vor Darmkrebs. Die Autoren sprechen denn auch von einem «unerwarteten Resultat».
Statt Aspirin zu schlucken, wäre es besser, Risikofaktoren zu reduzieren. Das heisst: das Rauchen aufgeben, sich bewegen, bei Übergewicht abnehmen, hohen Blutdruck und hohe Blutfettwerte behandeln. Ausserdem empfiehlt Herzspezialist Messerli, sich mediterran zu ernähren: viel Früchte und Gemüse, täglich eine Hand voll Nüsse und Samen sowie ein bis zweimal pro Woche Fisch und Geflügel essen. Kochen sollte man mit Oliven- oder Rapsöl. Messerli: «Das Verhalten zu ändern erfordert zwar mehr Einsatz als Pillen zu schlucken, ist aber deutlich wirksamer.»
Aspirin hilft nach einem Infarkt oder Herzanfall
Unbestritten ist: Das Medikament hilft, wenn man bereits einen Herzinfarkt oder Schlaganfall hatte. Herzspezialist Jochen Schuler vom Gesundheitszentrum Aigen in Salzburg (A) verschreibt Aspirin nur solchen Patienten oder wenn das Risiko sehr hoch ist und man es nicht schafft, den Lebensstil zu ändern.
Bayer schreibt, es sei klar belegt, dass Aspirin Cardio in den zugelassenen Bereichen nütze. Dies gelte auch für das Verhindern eines erstmaligen Infarkts bei Patienten mit einem hohen Risiko. Gleichzeitig müssten sie ihre Gewohnheiten ändern. Auch Mepha Schweiz schreibt, Leute ohne Infarkt sollten ASS Cardio Mepha nur nehmen, wenn sie gleichzeitig weitere Risikofaktoren wie Rauchen bekämpfen.
Umfrage: Schlucken Sie Aspirin gegen den Herzinfarkt?
Werner Treier (70), Uhwiesen
«Ja. Ich hatte im Auge ein Blutgerinnsel. Der Arzt sagte mir dann, ich hätte Ablagerungen in der Halsschlagader. Ich nehme das Medikament gern. Denn dadurch fühle ich mich vor weiteren Thrombosen geschützt.»
Armin Birnstiel (75), Zürich
«Ja. Der Arzt verschrieb es mir vor 15 Jahren. Damals hatte ich eventuell eine Streifung – die Durchblutung des Gehirns war kurz gestört. Die Ärzte konnten es aber nicht genau herausfinden.»
Ilana Cohen, Zürich
«Nicht mehr. Mein Nachbar hatte einen Herzinfarkt. Ich erschrak und wollte mich davor schützen. Deshalb nahm ich von mir aus Aspirin. Nun habe ich aber gehört, es bringe nichts – ausser Millionen für die Pharmaindustrie. Deshalb habe ich wieder aufgehört.»
Marcel Bär (83), Zürich
«Ja. Seit vier Jahren täglich. Damals hatte ich plötzlich taube Finger und am nächsten Tag taube Lippen. Laut Arzt hatte ich sechs Streifungen. Wenn ich mich verletze, heilt die Haut weniger schnell.»