Wenn ich im Zug oder im Restaurant bin, wechseln die Leute manchmal den Platz, weil sie sich über meine Ticks aufregen. Auch bei wichtigen Terminen kann ich sie nicht immer unterdrücken. So sagte ich einmal meinem Arzt «fick di». Das ist mir natürlich wahnsinnig peinlich.
Ich habe das Tourette-Syndrom. Deswegen sage ich manchmal unkontrolliert bestimmte Wörter: «Uhu», «du-du-du», «hei-hei» und eben auch «fick di». In der Öffentlichkeit versuche ich das zu unterdrücken. Beim Einkaufen eile ich durch die Gänge, damit ich bald wieder draussen bin und «ticken» kann. Das Unterdrücken funktioniert manchmal für eine halbe Stunde, danach wird der Druck aber zu gross. Meistens kommen dann auch die motorischen Ticks zum Vorschein: Ich wackle mit dem Kopf, klatsche in die Hände, stampfe mit den Beinen, bewege meine Füsse, zucke mit den Armen, flattere mit den Fingern, schneide Grimassen, verdrehe die Augen, schlage mir an Kopf oder Bauch.
Dabei spüre ich enormen Druck im Körper. Das ist schmerzhaft und lässt erst zu Hause nach, wenn ich so richtig Dampf ablassen kann. Dann liege ich bis zu drei Stunden auf dem Bett und ein Tick nach dem anderen bricht aus. Der ganze Körper bewegt sich unkontrolliert. Und weil ich es kaum aushalte, schlage ich wild um mich, bis ich endlich zur Ruhe komme und erschöpft einschlafe.
Ich bin eine Meisterin im Umleiten der Ticks. Nur aus diesem Grund konnte ich bis vor kurzem meinem Beruf als Musiklehrerin nachgehen. Kein Schüler hat je etwas gemerkt. Aber die ganze Zeit waren meine Zehen wild in Bewegung. Ich stand auf und «tickte» im Versteckten hinter ihnen oder hinter der Schranktüre. Doch das hatte seinen Preis: Jeden Abend bekam ich nach der Arbeit schwere Tick-Anfälle.
Die Ticks brachen bei mir nach hohem Fieber bereits im sechsten Lebensjahr aus. Weil ich mich schämte, versuchte ich sie zu unterdrücken. Ich zog mich in mein Zimmer zurück und «tickte» mich heimlich aus. Ausserhalb des Zimmers brauchte ich andere Ventile: Ich kaute die Fingernägel und zupfte an meinen Barthaaren, die übermässig wuchsen, als ich in der Pubertät war.
Als ich eine neue Stelle als Musiklehrerin antrat, liess ich die Barthaare epilieren und klebte künstliche Nägel auf. Darauf verstärkten sich die Ticks. Seit sechs Jahren sind sie auf Höchststufe. Wie bei einem Dampfkochtopf: Wenn der Druck zu gross ist, explodiere ich fast. So konnte ich natürlich nicht mehr unterrichten. Deshalb lebe ich seit einem Jahr von der IV.
Kino, Theater und Konzerte sind für mich zu anstrengend. Darum gehe ich kaum mehr unter die Leute. Zum Glück habe ich aber viele Freundinnen und Freunde, die mich besuchen. Als Hobby stelle ich Glasperlen her. Auch meine fünf Katzen lenken mich ab. Gegen das Tourette-Syndrom kann ein Hirnschrittmacher helfen. Zurzeit überlege ich mir, den Eingriff machen zu lassen.
Betroffene reden unkontrolliert
Patienten mit dem Tourette-Syndrom haben Ticks: Sie bewegen sich plötzlich unkontrolliert oder sagen ungewollt bestimmte Wörter. Bei den Betroffenen sind die Regelkreise gestört, welche die Bewegungen steuern.
Dabei spielt der Botenstoff Dopamin eine Rolle. Am besten wirken daher Neuroleptika. Diese Medikamente machen das Dopamin weniger aktiv. Oft haben Betroffene weitere Störungen. Zum Beispiel leiden sie unter Zwängen oder sind hyperaktiv.
Infos: Tourette Gesellschaft Schweiz, www.tourette.ch