Der 29-Jährige Anatol Schauwecker geriet im Frühling 2017 in eine Lebenskrise. Sein Vater Pierre Schauwecker erinnert sich: «Anatol fühlte sich verloren und minderwertig. Es ging ihm immer schlechter.» Anfang April meldete er sich beim Kriseninterventionszentrum der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Erst vier Tage später bekam er einen Termin. Eine Ärztin stellte beim Patienten eine mittelschwere Depression fest. Sie verschrieb ihm das Antidepressivum Sertralin. Am nächsten Morgen schluckte Anatol Schauwecker die erste Sertralinpille. Am selben Abend stürzte er sich in den Tod.
Dieser tragische Fall verwundert Fachleute nicht. Immer mehr kommt aus: Patienten, die Antidepressiva einnehmen, begehen öfter Suizid. Eine neue Studie von Forschern aus der Schweiz und Österreich zeigt: Antidepressiva erhöhen das Suizidrisiko um mehr als das Doppelte. 31000 Leute nahmen an der Studie teil. Bereits 2005 kam eine vergleichbar grosse Übersichtsstudie im «British Medical Journal» zum gleichen Schluss.
«Angst und innere Unruhe sind ein Warnsignal»
Der deutsche Depressionsforscher und Buchautor Peter Ansari sagt: «Medikamente gegen Depressionen steigern häufig den Antrieb.» Dies führe bei manchen Patienten dazu, dass sie Suizidgedanken verwirklichen. Der deutsche Pharmakologe Bruno Müller-Oerlinghausen betont, schon die Einnahme einer einzigen Tablette könne das Suizidrisiko erhöhen. Angst und innere Unruhe seien ein Warnsignal. Auch das Zürcher Obergericht hat sich mit dem Fall Anatol Schauwecker befasst. Im März 2018 kam es zum Schluss: Es sei «nicht auszuschliessen», dass das Medikament Sertralin ausschlaggebend für den Suizid des 29-Jährigen war.
Pierre Schauwecker wirft der Psychiatrischen Universitätsklinik vor, sie habe in der Behandlung Fehler gemacht: «Anatol hätte man retten können. Aber er erhielt in seiner schweren Not keine Hilfe.»
Schauwecker kritisiert, die Ärztin habe seinen Sohn nicht über das erhöhte Suizidrisiko informiert. Indem sie Anatol für eine Woche krank schrieb, habe die Ärztin in Kauf genommen, dass er zu Hause alleine war. Sie habe es versäumt, Verwandte oder Freunde zu kontaktieren, um sicherzustellen, dass jemand nach dem Patienten schaue. «Die Ärztin hat uns nicht informiert», sagt Pierre Schauwecker.
Fachleute unterstützen die Kritik des Vaters. Forscher Peter Ansari sagt: «Der beste Schutz vor Suizid ist, dass die gefährdete Person nicht allein ist.» Ansari kritisiert, die Behandlung im Kriseninterventionszentrum habe sich «auf die Herausgabe des Medikaments beschränkt». Das Umfeld eines Patienten zu aktivieren, ist laut Ansari «wertvoller als jedes Medikament».
Die Psychiatrische Universitätsklinik nimmt zum Tod von Anatol Schauwecker nicht Stellung. Sie verweist auf das Urteil des Obergerichts. Dieses entschied, es gebe keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Ärztin ihre Sorgfaltspflicht verletzt habe.
Studie: Kaum wirksamer als Scheinmedikamente
Antidepressiva stehen nicht nur in der Kritik wegen der Nebenwirkungen, auch der Nutzen der Medikamente ist unklar. Eine neue Übersichtsstudie im «British Medical Journal» mit über 100000 Patienten zeigt: Antidepressiva wirken kaum besser als ein Scheinmedikament. Dennoch verschreiben immer mehr Ärzte Antidepressiva. In den letzten acht Jahren stieg in der Schweiz die Anzahl der verkauften Packungen von 3,20 auf 3,66 Millionen. Der deutsche Psychiater und Buchautor Tom Bschor sagt: «Antidepressiva werden eindeutig zu häufig und zu lang verschrieben.» Bschor empfiehlt sie einzig bei einer schweren Depression.
Sertralin-Hersteller Pfizer wollte sich zum Fall nicht äussern. Die Firma GSK stellt ebenfalls Antidepressiva her und schreibt: Bei Depressiven könnten Suizidgedanken unabhängig davon auftreten, ob sie ein Medikament einnehmen oder nicht. Laut Pharmafirma Eli Lilly ist nicht bewiesen, dass Antidepressiva die in den Studien erwähnten Suizide verursachten. Und der Pharmaproduzent Mylan schreibt, die Heilmittelbehörde Swissmedic habe bestätigt, dass ihr Medikament gegen Depressionen wirke.
Tipps: Das können Sie gegen eine Depression tun
- Prüfen Sie, ob Sie an einer Depression leiden – unter Pdgr.ch/Selbsttest-Depression.629.0.html
- Probieren Sie bei leichten und mittelschweren Depressionen eine Psychotherapie, Sport oder Meditation.
- Mittel mit Johanniskraut können ebenfalls gegen Depressionen helfen. Die Krankenkassen zahlen aber nicht alle Produkte.
- Nehmen Sie Antidepressiva nur bei schweren Depressionen. Setzen Sie die Mittel nach drei bis vier Wochen ab, wenn sie nicht helfen.
- Angst und Unruhe nach der Einnahme von Anti-depressiva sind Warnsignale für eine erhöhte Suizidgefahr.
- Die Suizidgefahr ist besonders gross beim Beginn der Behandlung, bei einer Änderung der Dosis und beim Absetzen.
- Schauen Sie, dass ein Angehöriger anwesend ist. Eventuell hilft Ihnen der Eintritt in eine Klinik/Tagesklinik.
- Oft gehen Depressionen auch von selbst wieder vorbei.
Buchtipp: Im Ratgeber Das hilft bei Depressionen erfahren Sie, was die ersten Anzeichen einer Depression sind und ob man auf Therapien oder Tabletten setzen soll. Mit Tipps für Angehörige. Zu bestellen auf Seite 34 oder unter www.gesundheitstipp.ch.
Aufruf: Haben auch Sie Erfahrungen mit Antidepressiva?
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