Christa Salzmann erkannte ihren Vater im Altersheim Bruggwiesen in Effretikon ZH kaum wieder. Er lallte, sprach nur noch stockend. Bis vor kurzem ging er noch täglich spazieren, nun bewegte er sich nur noch im Zeitlupentempo. Beim Kuchenessen auf der Parkbank schlief er ein.
Dabei war ihr 88-jähriger Vater vor dem Heimeintritt ganz vital. Er litt zwar an Demenz, doch war er für sein Alter körperlich fit.
Heim pochte auf Abgabe des Mittels Seroquel
Im Heim dann setzte ihm die Coronakrise stark zu. «Die Isolation hat ihm sehr geschadet. Er erlitt einen starken Demenzschub», sagt Salzmann. Die Heimleitung sei auf sie zugekommen und habe ihr mitgeteilt, dass ihr Vater so nicht mehr tragbar sei. Die Familie müsse zustimmen, dass der Vater das Medikament Seroquel, ein Neuroleptikum, bekomme. Ärzte setzen es gegen Schizophrenie ein. Es beruhigt die Patienten und dämpft die Wahnvorstellungen.
Salzmann war beunruhigt, sie liess sich nur widerwillig überzeugen. «Die Medikamente machten für uns keinen Sinn, ausser dass sie unseren Vater ruhigstellen, und das wollten wir nicht», sagt sie. Schliesslich einigten sie sich darauf, dass ihr Vater Seroquel zwar erhalte – aber nur nach Bedarf und nur am Abend.
Doch bereits eine Woche später war ihr Vater auf einem Spaziergang kaum ansprechbar. «Er sprach keinen Satz zu Ende», erinnert sich Salzmann. Als sie sich bei der Stationsleitung erkundigte, hiess es, er erhalte nun Seroquel bereits am Nachmittag und jeden Tag.
«Wir waren sehr enttäuscht», so Salzmann. Die Familie erinnerte die Heimleitung und den Arzt an ihre Abmachung, doch diese gaben nicht nach. In einem Schreiben des Heimes heisst es: «Die verantwortungsvolle Pflege und Betreuung des Patienten kann zusehends nicht mehr wahrgenommen werden, da der Überwachungsaufwand zu gross ist.» Das sei nur möglich, wenn eine «sinnvolle Medikation» gewährleistet sei. «Wir sollten also der Einnahme von Medikamenten zustimmen», so Salzmann.
Schliesslich stellte das Heim die Familie vor die Wahl. «Es hiess: Entweder würden wir dem Heimarzt freie Hand geben – oder wir müssten ein neues Heim oder einen neuen Arzt suchen», sagt Salzmann.
A. D. machte ähnliche Erfahrungen mit einem Altersheim in der Nähe von Zürich. Seine 81-jährige Mutter lebte seit ein paar Wochen dort. Beim letzten Besuch war die ansonsten heitere Italienerin wie ausgewechselt. Still und in sich gekehrt sass sie im Rollstuhl. «Sie wirkte zugedröhnt», sagt D. Als er sich bei der Heimleitung über den Zustand seiner Mutter beklagte, sagte man ihm, schuld sei ein Demenzschub. Seine Nachforschungen ergaben: Seine Mutter bekam die Medikamente Seroquel und Risperdal. Auch diese Medikamente sind zugelassen für Schizophreniekranke. A. D. war entsetzt. Für ihn ist klar: «Sollte sich ihr Zustand weiter verschlechtern, werden wir ein neues Heim suchen.»
Fast 70 Prozent der Dementen ruhiggestellt
Das sind keine Einzelfälle, wie auch der pensionierte Zürcher Stadtarzt Albert Wettstein sagt: «Der Einsatz dieser Medikamente in Altersheimen ist ein grosses Problem.» Wettstein ist auch Vorsitzender der Zürcher Fachkommission der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter. In den vergangenen Jahren gingen hier über ein Dutzend Beschwerden ein von Angehörigen von Heimbewohnern, die solche Medikamente erhielten.
Eine Untersuchung der psychiatrischen Universitätsspitäler in Bern und Lausanne kam bereits 2011 zum Schluss: Fast 70 Prozent der Bewohner mit Demenz mussten solche Medikamente einnehmen. Die Forscher werteten Daten aus von rund 18800 Heimbewohnern in 90 Deutschschweizer Heimen zwischen 1997 und 2007.
Auch der Arzneimittelreport des Krankenversicherers Helsana stellte 2017 fest, dass in Pflegeheimen über 40 Prozent der Bewohner Medikamente mit einem Wirkstoff aus der Gruppe der Neuroleptika schluckten – am häufigsten Seroquel.
Der Wirkstoff in Seroquel greift in den Hirnstoffwechsel ein und verändert die Konzentration von Botenstoffen im Gehirn. Beschwerden wie Wahnvorstellungen nehmen ab. Die Patienten beruhigen sich, ihre Angst schwindet. Thomas Münzer, Chefarzt der geriatrischen Klinik St. Gallen, sagt: «Darum setzt man diese Medikamente auch bei Menschen mit einer Demenz ein.»
Doch die Medikamente sedieren nicht nur – sie haben auch Nebenwirkungen: Verschiedene Studien zeigten, dass sie die Sterblichkeit erhöhen. Zudem steigt das Schlaganfallrisiko, Patienten stürzen häufiger. Sie schlafen tagsüber regelmässig ein und leiden öfter unter Übergewicht sowie Altersdiabetes. Und: Sie machen unglücklich. Arzt Albert Wettstein: «Bereits in niedriger Dosis blockieren diese Medikamente die Fähigkeit, Freude zu empfinden.»
Für Fachleute ist klar: Ärzte sollten diese Mittel zurückhaltend verschreiben. Dan Georgescu, Chefarzt der Klinik für Konsiliar-, Alters- und Neuropsychiatrie der PDAG in Windisch AG: «Sie sollten nur zum Einsatz kommen, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind.»
Auch die Schweizerische Gesellschaft für Alterspsychiatrie und Psychotherapie empfiehlt, solche Medikamente «mit Bedacht» einzusetzen. Arzt Dan Georgescu rät Angehörigen, das Gespräch zu suchen, wenn sie mit der Medikation nicht zufrieden sind. «Ein gutes Heim hört die Angehörigen an und nimmt ihre Anliegen ernst.»
Einer der Gründe für das häufige Verschreiben der Medikamente: Mit den Pillen lässt sich der Pflegeaufwand verkleinern. Laut einem Bericht der «Sonntags-Zeitung» von 2018 haben in den letzten Jahren rund 300 Alters- und Pflegeheime massiv qualifiziertes Personal abgebaut. Fast jedes fünfte Heim in der Schweiz ersetzt Fachangestellte durch Hilfspersonal. Hinzu kommt, so Ursula Wiesli vom Schweizerischen Verein für Pflegewissenschaften: «Schweizer werden immer älter und treten später in die Heime ein, wenn sie bereits stark pflegebedürftig sind», sagt sie. Die Folge: «Die Pflege ist intensiver und anstrengender geworden.»
Doch es braucht gar keinen so grossen Pflegeaufwand, um den Demenzkranken gerecht zu werden. Facharzt Thomas Münzer ist überzeugt: «Einfache Dinge wie Vertrauen schaffen, Humor und etwas Zuwendung helfen, den Einsatz von Neuroleptika zu vermindern.»
Und vor zwei Jahren kam eine englische Studie mit über 800 dementen Bewohnern in 69 englischen Pflegeheimen zum Schluss: Bereits wenig Kontakt zur Pflegeperson pro Tag reicht, damit sich das Wohlbefinden eines Demenzkranken signifikant verbessert – es waren zehn Minuten.
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