Anna Unold leidet an starken Rückenschmerzen – sie strahlen bis in die Beine aus. Der Grund ist ein eingeklemmter Nerv im Kreuz. «Vor allem beim Liegen tut das weh», sagt die 79-Jährige aus Trimmis GR. «Diese Schmerzen hatte ich schon in jüngeren Jahren.» Ein Arzt verschrieb ihr Fentanyl-Pflaster, ein besonders starkes Schmerzmittel. Es gehört zur Gruppe der sogenannten Opioide – wie zum Beispiel Morphium. Laut einer Studie der Uni Lausanne stieg der Verbrauch von 1985 bis 2015 pro Person und Jahr von 18 auf über 420 Milligramm – das sind rund 23 Mal so viel.
Fachleute kritisieren, Ärzte würden diese Schmerzmittel zu leichtfertig verordnen. Etzel Gysling, Hausarzt und Herausgeber der Fachzeitschrift «Pharma-Kritik», sagt: «Ich halte es für einen grossen Fehler, dass man begonnen hat, Opioide für alle möglichen Schmerzen zu verschreiben.» Die US-Gesundheitsbehörde Center for Disease Control empfiehlt, die Mittel nur bei schweren Fällen wie Krebs, nach Unfällen oder in der Palliativmedizin zu verwenden. Der US-Arzt Andrew Weil betont, beim langfristigen Einsatz von Opioiden gegen Kopfweh, Rücken- oder Nackenschmerzen würden die Risiken den Nutzen überwiegen. Das schreibt er in seinem Buch «Vernunft statt Tabletten». In den meisten Fällen gebe es sinnvollere Alternativen (siehe Tabelle im PDF).
Opioide machen schnell abhängig
Ein grosses Problem bei Opioiden: Sie machen schnell abhängig. Nimmt man sie über längere Zeit, gewöhnt sich das Gehirn daran, und man benötigt immer mehr davon. Das Absetzen kann schwere Entzugssymptome verursachen und eine Überdosis gar einen tödlichen Atemstillstand zur Folge haben.
Besonders schlimm ist die Medikamentensucht in den USA. Dort sprechen Fachleute von einer «Epidemie». Seit der Jahrtausendwende starben rund eine halbe Million Amerikaner an einer Überdosis. Zu den Opfern gehören auch Prominente wie der Schauspieler Heath Ledger, bekannt aus Filmen wie «Batman», und die Popmusiker Prince und Tom Petty. Beide verwendeten Fentanyl wegen starker Knie- und Hüftschmerzen. In den USA stehen nun erste Hersteller vor Gericht: Sie hätten Opioide verharmlost und zur Sucht beigetragen.
«Opioide möglichst rasch wieder absetzen»
In der Schweiz sei die Situation nicht so dramatisch, sagt Arzt Etzel Gysling. Dennoch müsse man sich bewusst sein, dass es keine risikofreien Schmerzmittel gibt. Er rät: «Patienten sollten Opioide möglichst rasch wieder absetzen, damit sie sich nicht daran gewöhnen.» Laut der Erhebung «Suchtmonitoring Schweiz» vom letzten Jahr nehmen vier von hundert Senioren solche Mittel «regelmässig und langfristig». Das deutet laut Suchtfachleuten auf eine mögliche Abhängigkeit hin. Nach Angaben der Heilmittelbehörde Swissmedic sind in den letzten zehn Jahren über 150 Menschen gestorben, nachdem sie Opioide eingenommen hatten. 1400 Meldungen betrafen Nebenwirkungen der Medikamente.
Kommt dazu: Bei Rückenschmerzen und Arthrose in der Hüfte oder in den Knien nützen Opioide nicht mehr als andere Schmerzmedikamente, sie haben nur mehr Nebenwirkungen. Das zeigte letztes Jahr eine Studie mit 240 Patienten im Durchschnittsalter von 58 Jahren. Auch das «British Medical Journal» schrieb kürzlich, es gebe kaum Beweise für den Nutzen bei chronischen Schmerzen: Opioide würden weniger als einem von zehn Patienten helfen.
Gysling empfiehlt Patienten mit chronischen Schmerzproblemen Massnahmen ohne Medikamente, etwa Physiotherapie, Verhaltenstraining oder Meditation. Maria Wertli, Leitende Ärztin am Berner Inselspital, sagt: «Bei Arthrose- und Rückenschmerzen ist Bewegung sehr wichtig.» Wertli empfiehlt Therapien, die Betroffene regelmässig in den Alltag einbauen können und die zu ihren Bedürfnissen passen: «Nicht alle mögen Yoga oder Massage, aber einigen Patienten hilft es.» Entscheidend sei, eine Fehlbelastung wegen Schmerzen zu vermeiden. Dabei könne ein Trainingsprogramm unter Anleitung durch einen Physiotherapeuten helfen.
Allerdings gebe es auch Patienten, die nur mit Hilfe von Schmerzmitteln an einem Training teilnehmen könnten, sagt Maria Wertli. Weil jeder Mensch individuell auf Medikamente reagiert, müsse man ausprobieren, welches Mittel am besten helfe.
Massagen statt Fentanyl-Pflaster
Schmerzpatientin Anna Unold hat beschlossen, die Fentanyl-Pflaster abzusetzen. «Ich spürte zwar keine Nebenwirkungen», sagt sie. «Aber ich bin überzeugt, dass diese Pflaster mir langfristig nicht gut tun.» Jetzt macht sie eine Therapie mit Massage und Turnen. Und sie geht oft mit ihrem Hund spazieren: «Das hilft mir und lenkt mich von den Schmerzen ab.» Ab und zu nimmt Anna Unold eine Dafalgan-Tablette, «aber nur, wenn die Schmerzen so stark sind, dass ich sie nicht aushalte».
Opioid-Hersteller Mundipharma sagt, bei sachgemässem Gebrauch seien Opioide eine «wertvolle und unentbehrliche» Therapiemöglichkeit. Sie seien auch zur Behandlung von Arthrose- und Rückenschmerzen zugelassen, weil der Nutzen bewiesen sei. Um Risiken zu minimieren, sollten Ärzte Kontraindikationen berücksichtigen sowie Wirkung und Nebenwirkungen regelmässig überprüfen. Hersteller Mepha schreibt, eine Abhängigkeit sei selten bei Patienten, die Opioide bei starken Schmerzen verwenden. Eine Sucht könne man «weitestgehend vermeiden», wenn Ärzte retardierte – also besonders lang wirkende – Medikamente verschreiben und die Patienten engmaschig überwachten.
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