Zwischen einer Handvoll Bauernhöfen, in der hügeligen Landschaft oberhalb des Aaretals, steht das alte Landhaus von Rainer Zur Linde. Der Regisseur und TV-Sprecher kommt aus Deutschland – doch hier, sagt er, habe er Wurzeln geschlagen. Hier oben in Oberruntigen BE vergessen die Dorfbewohner oft den Koloss, der nur einen Kilometer weiter unten am Fluss steht: das Atomkraftwerk Mühleberg.
Das AKW ist eines der ältesten der Welt. Beim Bau war vorgesehen, es im Jahr 2012 abzuschalten. Kurz vor Weihnachten verlängerten die Behörden die Betriebsbewilligung auf unbestimmte Zeit. Doch der 66-jährige Zur Linde vergisst das AKW keinen Tag mehr – seit zwei Jahren: Damals stellte sein Arzt bei einer Routineuntersuchung schlechte Prostatawerte fest. Eine Gewebeprobe bestätigte: Es ist ein bösartiger Tumor. Die Ärzte operierten sofort. Heute geht es Zur Linde gut. Trotzdem nagen die Sorgen an ihm: «Die Strahlen aus dem AKW sind schuld an meinem Krebs.»
Atomkraftwerke geben ständig radioaktive Stoffe in die Umgebung ab. Auch das AKW Mühleberg, wie jetzt eine Stichprobe des Gesundheitstipp zeigt. Er sammelte in der Umgebung des AKWs Proben von Boden, Schnee sowie Sediment und liess sie im Kantonalen Labor Basel untersuchen. Es stellte von zwei Stoffen teils zu hohe Mengen fest:
- Tritium: Der Schnee – 850 m vom AKW entfernt – war stark mit Tritium belastet (siehe Tabelle im pdf-Artikel). Er enthielt 15 Becquerel pro Kilo des radioaktiven Wasserstoffs. Im Schnee unmittelbar beim Geländezaun des AKWs sah es ähnlich aus: 12,8 Becquerel. Der Uetikoner Strahlenschutz-Experte Marco Bähler sagt: «Diese Mengen sind besorgniserregend.» Zum Vergleich: Ein Liter Regenwasser enthält etwa 1 Becquerel Tritium. Tritium entsteht im Reaktor beim Zerfall des Urans sowie im Kühlwasser. Der Schornstein bläst es in die Luft. Nimmt man Tritium zum Beispiel über die Nahrung auf, sammelt es sich im Körper an und kann die Gene schädigen.
- Cobalt-60: Das Sediment der Aare unterhalb des AKWs enthielt pro Kilo 5,4 Becquerel Cobalt-60. Für Bruno Chareyron, Atomphysiker aus Valence (F), ist klar: «Die Probe ist radioaktiv belastet.» Oberhalb des AKW-Zuflusses war der Stoff nicht nachweisbar. Das radioaktive Schwermetall entsteht, wenn Metallteile im AKW rosten. Es gelangt über das Abwasser in den Fluss. Die gemessene Radioaktivität war zwar deutlich unter der sogenannten Freigrenze. Das heisst: Die Proben gelten für die Behörden nicht als radioaktiv. Doch in der Natur kommen so hohe Werte nicht vor. Viele Wissenschafter sind deshalb überzeugt: Auch solch niedrige Strahlung kann den Menschen schädigen – vor allem, wenn sie über lange Zeit auf den Körper einwirkt.
Studie zeigt: Mehr Krebsfälle in der Nähe von AKWs
Eine deutsche Studie wies vor zwei Jahren nach: AKWs erhöhen das Risiko für Krebs. Kinder, die in deren Nähe aufwachsen, erkranken öfter an Krebs als andere. Besonders häufig bekommen diese Kinder Leukämie. Radioaktive Strahlen können bei Menschen auch Lymphdrüsen- und Brustkrebs auslösen. In der Nähe von Siedewasserreaktoren gab es gemäss der Studie die meisten Krebsfälle. Auch im AKW Mühleberg ist ein solcher alter Reaktor in Betrieb.
Um herauszufinden, ob Krebs bei Mühleberg besonders häufig auftritt, bräuchte es ein nationales Krebsregister. Dieses fehlt in der Schweiz noch immer. Rainer Zur Linde ist allerdings nicht der einzige Krebspatient in der Nähe des AKWs Mühleberg. «Immer wieder erkranken hier Menschen an Krebs», sagt er. Das ist auch weiteren Anwohnern aufgefallen. Sie führen privat Listen, in denen sie alle bekannten Krebsfälle in der Umgebung des AKWs notieren (siehe auch «Saldo», Ausgabe 1/2010).
Die dokumentierten Fälle erschrecken nicht nur Anwohner, sondern auch Experten: Sechs Menschen bekamen in den letzten 23 Jahren Leukämie. Fünf von ihnen starben. Sie alle wohnten maximal 3,5 Kilometer vom AKW entfernt. Eine damals 18-Jährige und ein Mann erkrankten bei Mühleberg an Lymphdrüsenkrebs. Zudem bekamen etliche Frauen Brustkrebs. Für den Basler Krebsspezialisten Claudio Knüsli steht fest: «Es gibt keine unschädliche Strahlung.» Man müsse deshalb «dringend» klären, ob die Strahlung aus dem AKW Mühleberg das Krebsrisiko erhöht.
Ärzte fordern, Mühleberg stillzulegen
Knüsli engagiert sich bei den Ärzten für soziale Verantwortung. Er hält es «aufgrund der Gesundheitsrisiken für unverantwortbar», dass das AKW Mühleberg weiter in Betrieb ist. Auch sein Kollege, der Grenchner Arzt Martin Walter, fordert, das Werk stillzulegen. Eine Gruppe besorgter Anwohner hat Beschwerde erhoben gegen die Betriebsbewilligung des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation. Unter ihnen ist auch der Biobauer Walter Ramseier. Sein Pachtland erstreckt sich bis an die Aare – am anderen Ufer steht das AKW.
Ramseier hat Angst – weniger vor den Umgebungsstrahlen als vor einem erneuten Störfall. Bereits 1986 gabs eine Filterpanne: Radioaktiver Staub gelangte in die Umgebung von Mühleberg. Die gemessene Radioaktivität war höher als ein halbes Jahr zuvor – nachdem Tschernobyl die Luft von Mühleberg verseucht hatte. Biobauer Ramseier haben die Störfälle schockiert: «Ich tue alles, damit der Boden gesund bleibt – aber das AKW kann mir alles verderben.»
Diese Angst ist nicht unbegründet. Mühleberg ist veraltet. Bereits vor 20 Jahren untersuchte das Öko-Institut Darmstadt (D) die Bauweise des AKWs Mühleberg und kam zum Schluss: «Es ist unsicherer als andere Reaktoren.» Seit 1990 wissen die Verantwortlichen zudem, dass Risse den Kernmantel durchziehen. Sie werden immer grösser. Auch Rohre, die im Notfall Kühlwasser in den Reaktor spritzen sollen, haben Risse. Jürg Joss ist Experte bei der Gruppe Fokus Anti-Atom. Er warnt: «Dadurch kann der Reaktor leichter ausser Kontrolle geraten und Radioaktivität freisetzen.»
Biobauer Ramseier ist im Dilemma. Er will eigentlich nicht mehr in der Nähe eines AKWs leben. Doch der Hof ist seit vier Generationen in der Familie. «Ich kann doch nicht einfach alles zurücklassen», sagt er. Die Bernischen Kraftwerke AG (BKW) betreiben das AKW Mühleberg und halten am Standort fest. Mehr noch: Sie wollen ein neues, riesiges AKW bauen, neben das alte. Im Jahr 2025 soll es fertig sein. Bis dahin soll das jetzige Kraftwerk in Betrieb bleiben.
Die BKW bestreiten gegenüber dem Gesundheitstipp, dass das AKW Mühleberg die Menschen in der Umgebung krank machen könnte. Die deutsche Studie zeige zwar, dass mehr Kinder in der Umgebung von AKWs an Leukämie erkranken – dies beruhe jedoch «nicht auf der Einwirkung radioaktiver Strahlung».
Dennoch räumen auch die BKW ein, dass es kein unschädliches Mass an Strahlung gebe. Es sei «mit anderen Krankheitsrisiken vergleichbar». Die höchste Strahlenbelastung stamme in der Schweiz nicht aus AKWs, sondern von «natürlicher Strahlung aus dem Kosmos, von der Sonne und aus dem Erdreich».
Die BKW bestreiten, dass das AKW Mühleberg schuld sei an den erhöhten Werten für Tritium in der Umgebung und Cobalt-60 im Sediment der Aare. Das Tritium komme «aus der Luft». Die BKW finden allerdings bei eigenen Messungen auch Cobalt-60 und räumen deshalb ein: «Der Wert entspricht unseren Erfahrungen.» Die Menge liege jedoch weit unter der Freigrenze.
Ohne neues Sicherheitskonzept ist 2012 Schluss
Die BKW schreiben weiter, das AKW Mühleberg sei in «sehr gutem Zustand», es werde «kontinuierlich modernisiert». Der Kernmantel sei mit Klammern repariert, aber auch ohne diese sei er «sicher». Ähnliche AKWs dürften in den USA sogar 60 Jahre in Betrieb sein. Die Wahrscheinlichkeit für einen schweren Störfall sei «extrem klein». Es lägen «keine Gründe vor», die ein Abschalten des Reaktors nötig machen würden. Dies habe das zuständige Bundesamt bescheinigt.
Marianne Zünd, Sprecherin des Bundesamts für Energie, schreibt dem Gesundheitstipp, zurzeit prüfe der Bund in einer eigenen Studie das Leukämierisiko in der Nähe von Schweizer AKWs. Zudem müssten die Bernischen Kraftwerke AG dem Bund bis Ende Jahr ein neues Sicherheitskonzept vorstellen. Das sei die Voraussetzung, dass der Betrieb auch nach 2012 zugelassen werde.
Der Bund überwache im Übrigen, «wie viel Radioaktivität die Schweizer AKWs abgeben», sagt Zünd. Die Mengen lägen auch in Mühleberg stets «deutlich unterhalb der Höchstgrenzen». Allerdings räumt Zünd ein, dass die Tritium-Werte relativ hoch sind: Es sei fünfmal so viel Tritium im Schnee, wie das Wetteramt Meteoschweiz normalerweise darin finde.