Beni Kämpfer war ein schwieriger Junge. Frech war er, manchmal auch aggressiv. Die Lehrerin kam mit ihm nicht zurecht, Beni musste in ein Schulheim. Als er elf Jahre alt war, liessen sich seine Eltern scheiden. Benis Verhalten verschlimmerte sich.
Da schaltete das Schulheim die Vormundschaftsbehörde ein. Diese entzog Beni der Obhut seiner Mutter und wies ihn in die kinder- und jugendpsychiatrische Klinik Neuhaus in Ittigen BE ein. Doch Beni war nicht krank. Dennoch musste er gegen seinen Willen starke Psychopillen einnehmen.
Eines Tages sei ein Praktikant ins Zimmer gekommen, erinnert sich der heute 21-Jährige. «Er gab mir eine Pille. Ich solle die schlucken.» Beni weigerte sich. Schliesslich tat er so, als schlucke er die Pille. Später spuckte er sie wieder aus. Doch die Betreuer merkten es. «Am nächsten Tag kamen sie mit einem Plättchen, das sich auf der Zunge sofort auflöste.»
Die Medikamente waren für Kinder gar nicht zugelassen
Die Ärzte verschrieben dem Schüler zuerst Zyprexa, danach Solian. Das sind sogenannte Neuroleptika, Medikamente gegen Psychosen. Betroffene haben Wahnvorstellungen oder hören Stimmen. Doch Beni Kämpfer hatte nichts dergleichen. Er war einfach ein rebellischer Junge.
Seine Eltern waren strikt dagegen, dass er Medikamente bekommt. Die Klinik habe ihren Willen aber ignoriert, klagt Benis Mutter Mirjam Kämpfer heute. Mehr noch: «Jeder Widerstand von uns hatte zur Folge, dass Beni am Wochenende nicht heim durfte.» Der Kontakt mit den Eltern sei für das Kind nicht gut, befand die Klinikleitung.
Zudem drohte sie der Mutter: Wenn sie sich sträube, würde sie auch noch das Sorgerecht verlieren. Mirjam Kämpfer erinnert sich noch gut an die Gespräche mit der zuständigen Ärztin: «Sie lehnte sich lächelnd im Stuhl zurück, die Arme hinter dem Kopf verschränkt.» Irgendwann habe sie nichts mehr gesagt: «Die waren sowieso am längeren Hebel.»
Die Neuroleptika, die Beni verabreicht wurden, sind für ihre massiven Nebenwirkungen berüchtigt, etwa eine starke Gewichtszunahme. Beni nahm denn auch über 25 Kilo zu – und das innert gut einem Jahr. Die Betreuer schoben die Schuld dem Jungen zu. Sie warfen ihm «unkontrolliertes Essverhalten» vor und erstellten einen peniblen Ess- und Gewichtsplan. Nahm Beni in einer Woche nichts ab, durfte er am Wochenende nicht nach Hause.
Andreas Wepfer, Psychotherapeut und Berater des Gesundheitstipp, kritisiert: «Beni hatte ein gestörtes Sozialverhalten. Das hätte er am Wochenende verbessern können. Stattdessen sperrte man ihn ein. Das ist widersprüchlich.» Was weder Beni noch seine Mutter damals wussten: Zyprexa und Solian sind für Kinder gar nicht zugelassen. Aus gutem Grund, sagt Andreas Wepfer. Diese Mittel würden ins Gehirn eingreifen, das bei Kindern und Jugendlichen noch in Entwicklung sei. «Wir wissen viel zu wenig über die langfristigen Folgen.»
«Jeden Morgen mussten wir unsere Pillen abholen»
Solche Bedenken gab es schon vor zehn Jahren, als Beni in der Klinik war. Trotzdem hätten damals fast alle Kinder Medikamente bekommen, sagt Beni Kämpfer – einige bis zu sieben Pillen pro Tag: «Jeden Morgen nach dem Frühstück mussten wir die Pillen abholen.» Psychotherapeut Wepfer kann sich den Grund dafür vorstellen: «Die Kinder haben dann weniger Energie und sind nicht so rebellisch.» Doch die Ursache, weshalb ein Kind rebelliere, beseitigten die Mittel nicht.
Der Gesundheitstipp schilderte Benis Geschichte auch dem Psychologen und Psychotherapeuten Allan Guggenbühl. Er bezeichnet die Medikamentenabgabe als «Verzweiflungstat» der Klinik: «Offensichtlich ist den Verantwortlichen die Situation entglitten.» Jan Jeremias, heute 21 Jahre alt, war als Elfjähriger ebenfalls in der Klinik Neuhaus. Auch er musste Pillen schlucken, darunter Ritalin und ein Neuroleptikum.
Eines Morgens protestierte er lautstark, wollte die Medikamente nicht nehmen. Auch andere Kinder wehrten sich. «Da kamen die Pfleger hereingestürmt. Sie packten mich und zwei oder drei andere. Wir alle bekamen eine Spritze.» Was dann passierte, weiss er nicht mehr genau. Er wurde in ein Zimmer gebracht, war plötzlich extrem müde. «Ich war nur noch halb bei mir.»
Für Fachleute ist ein zwangsweises Verabreichen von Medikamenten höchst fragwürdig. So für Roger Burges, Rechtsanwalt und Zentralsekretär von Psychex, einem Verein, der Psychiatriepatienten unterstützt. Burges sagt: «Dies ist der schwerwiegendste Eingriff in die Integrität der Patienten, weil er das Bewusstsein verändert.» Die Ärzte sollten stattdessen versuchen, mit anderen Mitteln zu reagieren.
In der Klinik Neuhaus herrschte generell ein strenges Regime. Wer aufmuckte, wurde bestraft. Jan Jeremias: «Die Pfleger packten den Betroffenen und zogen ihn bis auf die Unterhosen aus. Dann sperrten sie ihn ins Isolierzimmer.» Es enthielt nur eine Matratze. Dort musste er bleiben – eine Stunde oder zwei, manchmal auch länger.
Wer nicht spurte, durfte nicht nach Hause
Wer gegen die Strafen protestierte oder auch nur Frust zeigte, musste mit verschärften Sanktionen rechnen. Beni Kämpfer: «Wir mussten den Teller immer leer essen. Einmal mochte ich etwas nicht und reklamierte.» Ein Pfleger schickte ihn zur Strafe eine Stunde auf sein Zimmer. Beni protestierte weiter, die Situation eskalierte. «Schliesslich sperrte mich der Pfleger für den Rest des Tages und die ganze Nacht ins Isolierzimmer.»
Auch den Kontakt zur Mutter, an der Beni so hing, setzte die Klinik als Druckmittel ein. Als er sie besuchte, anstatt Sport zu treiben, verhängte die Klinik ein einmonatiges Kontaktverbot. Kinder, die nicht spurten, schlossen die Pfleger ins Zimmer ein. Manchmal entfernten sie vorher alles ausser der Matratze. Beni Kämpfer war so über zwei Wochen am Stück eingesperrt, nachdem er mehrmals abgehauen war. «Nur eine Stunde pro Tag durfte ich aus dem Zimmer.»
Nach Ablauf der Strafe bekam er seine persönlichen Sachen nicht mehr zurück. Mit gutem Verhalten musste er sich einen Gegenstand pro Woche zurückverdienen – etwa ein Buch oder eine Musikkassette. Der Elfjährige fühlte sich den Erwachsenen völlig ausgeliefert.
«Ein Kind zwei Wochen lang einzusperren ist Beugehaft»
Psychotherapeut Wepfer kritisiert solche drastischen Strafen. Zwar könne es durchaus sinnvoll sein, ein rebellisches Kind vorübergehend in sein Zimmer zu sperren, damit es zur Ruhe kommen könne, sagt er. «Aber es zwei Wochen lang einzusperren, ist Beugehaft. Dadurch lernt das Kind bestimmt nichts.»
Zudem sei es pädagogisch heikel, bei Protest gleich die Strafe zu verschärfen, so Wepfer: «Man muss sehr genau wissen, wie weit man gehen kann.» Wenn das Kind nicht einsehe, weshalb es etwas tun solle – etwa ein Medikament zu schlucken –, bewirke man damit kaum etwas. Für Wepfer zeigen solche Strafen eher, «wie verzweifelt die Klinik offensichtlich war». Roger Burges von Psychex bezeichnet die Strafen als «Willkür ohne Rechtsgrundlage». Zwangsmassnahmen seien nur dann zulässig, wenn der Patient für sich oder andere eine unmittelbare Gefahr darstelle. Leider seien solche Strafen in der Psychiatrie dennoch verbreitet.
Die Klinik Neuhaus wollte nicht Stellung nehmen – weder zum Fall Beni Kämpfer noch zum Fall Jan Jeremias. Beni Kämpfers Leidenszeit war nach fast zwei Jahren zu Ende: Die IV zahlte nämlich die Kosten für die Klinik nicht mehr. Beni kam in ein anderes Heim. Medikamente waren dort kein Thema, und schon nach zwei Monaten konnte er die geschlossene Abteilung verlassen. Heute arbeitet er als Informatiker. Auch Jan Jeremias ist seit langem weg von der Klinik und macht eine Verkäuferlehre. Psychologische Betreuung brauchen beide nicht mehr. Medikamente schon gar nicht.
Tipps: Zwang in der Klinik – Das sind Ihre Rechte
- Zwangsmassnahmen sind nur zulässig, wenn der Patient oder andere Menschen unmittelbar gefährdet sind.
- Ärzte müssen den Patienten die Gründe für Zwangsmassnahmen mitteilen.
- Bei Kindern dürfen Eltern über wichtige Fragen der Behandlung entscheiden.
- Wer gegen seinen Willen in eine Klinik eingewiesen wird, kann innert 10 Tagen eine gerichtliche Überprüfung verlangen.
Hilfe für Psychiatriepatienten
- Pro Mente Sana Tel. 0848 800 858 (Mo, Di, Do 9–12 Uhr, Do auch 14–17 Uhr)
- Psychex, Tel. 0848 00 00 33