Churwalden: Im Bündner Ferienort bricht die Nacht herein. Bewusstlos liegt Camil Weber am Boden, in einiger Distanz zur Sommer-Rodelbahn. Er hat links einen offenen Beinbruch, das rechte Schienbein und der linke Arm sind ebenfalls gebrochen, dazu kommt eine schwere Hirnerschütterung. Erst nach langer Suche finden ihn die Retter. Die Rega fliegt den 46-Jährigen ins Spital Chur. Insgesamt zwölf Mal operieren ihn die Ärzte, erst sieben Monate später kann er die Reha-Klinik in Bellikon AG definitiv verlassen. Weitere vier Monate vergehen, bis er wieder voll arbeiten kann.
«Ich hätte nie gedacht, dass man sich auf einer solchen Bahn derart schwer verletzen kann», sagt Weber heute. Was genau an diesem 2. August 2000 passiert ist, weiss Camil Weber nicht. Er erinnert sich nur noch, dass ihm auf der Rodelbahn der Fahrtwind die Pellerine ins Gesicht geblasen hatte. Er wollte sie irgendwie fixieren, und dabei muss sich der Sicherheitsgurt gelöst haben. In der nächsten Kurve schleuderte es Weber von der Bahn.
Unfälle auf Rodelbahnen sind keine Seltenheit. Laut Suva-Statistik verletzen sich jedes Jahr rund 50 Personen so stark, dass sie zum Arzt oder ins Spital müssen. Doch das sind nur Berufstätige – Kinder, Hausfrauen, Pensionierte und Touristen sind nicht mitgezählt. Auch zwei tödliche Unfälle auf Schweizer Rodelbahnen sind bekannt: 2001 starb eine 73-jährige Frau in Churwalden, 2006 ein elfjähriger Junge in Saas Fee VS. Jetzt zeigt eine Stichprobe des Gesundheitstipp: Viele Rodelbahnen sind unsicher. Das auf Rodelbahnen spezialisierte deutsche Prüfinstitut Tüv Süd begutachtete im Auftrag des Gesundheitstipp zehn Rodelbahnen.
Nur bei zwei Bahnen ist die Sicherheit gut
Das Resultat ist ernüchternd: Keine einzige Bahn erreichte die Note «sehr gut». Zwei waren gut, drei genügend, der Rest ungenügend (siehe Tabelle im pdf-Artikel). Bei sieben der Anlagen fährt der Schlitten in einer Rinne talwärts, ähnlich einer langen Rutschbahn. Drei Anlagen waren Schienenbahnen. Am schlechtesten schnitt die Rinnenbahn in Filzbach GL ab. Statt ebenerdig verläuft sie immer wieder auf Stelzen, die bis zu fünf Meter hoch sind. Darunter befindet sich nicht etwa eine weiche Wiese, sondern oft abschüssiger Waldboden mit Felsbrocken und Pflöcken. «Ein Sturz könnte hier schlimme Verletzungen nach sich ziehen», warnt Tüv-Experte Matthias Geisler.
Dies bestätigt das Kantonsspital Glarus. «Wir haben jeden Sommer mehrere Patienten, die auf der Rodelbahn in Filzbach verunfallt sind», sagt André Rotzer, Chefarzt Chirurgie. Oft seien es Schürfungen und Prellungen, bisweilen auch schwere Verletzungen. Bei der Stichprobe zeigte sich: Die Bahn in Filzbach lässt alle Benutzer einen Zettel unterschreiben. Demnach fahren sie auf eigene Verantwortung, «das alleinige Risiko liegt beim Fahrer». Doch das befreit die Bahnen nicht von der Haftung. Gut schnitten die Bahnen in Langenbruck BL und Kandersteg BE ab. Sie erfüllen die Tüv-Anforderungen:
- Die beiden Bahnen sind ebenerdig verlegt, und links und rechts haben sie einen Sturzraum von zwei bis drei Metern Breite.
- In beiden Bahnen sieht man an allen Stellen mindestens 25 Meter weit. So können die Fahrer Auffahrunfälle vermeiden.
- Hindernisse wie Bäume oder Felsbrocken sind mindestens anderthalb Meter von der Bahn entfernt.
Grosse Unterschiede stellte der Tüv auch bei den Schlitten fest. In der Regel sind sie so konstruiert, dass man einen Hebel nach vorne drücken muss, damit sich die Bremse löst. In Filzbach ist das Gegenteil der Fall: Hat ein Kind keine Kraft mehr, am Hebel zu ziehen, beschleunigt der Schlitten auf der steilen Bahn. Der Tüv stellte auch fest, dass die Schlitten in Filzbach oft seitlich abdriften: «Dies erhöht das Unfallrisiko.» Ein sicherer Schlitten hat eine automatische Bremse, welche die Geschwindigkeit auf 40 km/h begrenzt. Auf mehreren Bahnen war die Bremse deutlich spürbar, auf anderen wie etwa am Atzmännig in Goldingen SG überhaupt nicht.
Viele Rodelbahn-Unfälle passieren am Ende der Fahrt, wenn ein Schlitten auf einen stehenden aufprallt. Gute Noten für den Zielbereich bekamen die Bahnen in Langenbruck BL und Sattel SZ: Magnetfelder bremsen zu schnelle Schlitten automatisch ab.
Angerissene Lendenwirbel wegen Auffahrunfall
Welche Folgen ein Auffahrunfall haben kann, zeigt das Beispiel von Kathrin Baumann (Name geändert). Weil vor ihr eine Gruppe Touristen auf offener Strecke anhielt, prallte ihr Schlitten ungebremst auf einen anderen. «Ich flog mit voller Wucht in den Gurt», erzählt sie – so stark, dass ihr der Beckengurt den Bauch blutig schürfte. Die Rega flog sie ins Spital. Dort stellten die Ärzte fest: Zwei Lendenwirbel waren angerissen. «Zum Glück senkrecht und nicht waagrecht», sagt Baumann, «sonst wäre ich heute im Rollstuhl.»
Ein weiteres Unfallrisiko sind lose Kleider. Sie können während der Fahrt unter den Schlitten geraten. Doch die Stichprobe zeigt: Bei den meisten Bahnen erkennt das Personal diese Gefahr nicht. Nur gerade in Dallenwil NW reagierte es und forderte die Testperson auf, eine umgebundene Jacke zu deponieren. Unfälle verhindern können auch Schilder mit Warnhinweisen am Start sowie entlang der Strecke. In diesem Punkt schneidet die sonst gute Bahn in Kandersteg am schlechtesten ab: Nur gerade vor einer Kurve steht ein Schild «bremsen». Laut Tüv sollten solche Schilder vor jeder rasanten Kurve angebracht sein. Wichtig seien zudem Schilder, die zum Abstandhalten auffordern. Dieser sollte mindestens 25 Meter betragen. Schilder bei den Bahnen in Sattel, Schongau und Kandersteg fordern jedoch nur 15 Meter Abstand. «Zum Verhindern von Auffahrunfällen ist dies ungenügend», so das Urteil des Tüv-Experten.
Die Betreiber reagieren unterschiedlich auf die Kritik. Die Bahnen in Dallenwil, Filzbach, Sattel und Schongau nahmen nicht detailliert Stellung. Die Kerenzerberg-Bahn in Filzbach schreibt dem Gesundheitstipp nur, man sei bestrebt, den Gästen bewusst zu machen, «dass die Eigenverantwortung von grösster Bedeutung ist». Man sei jedoch «offen für Vorschläge» und bereite Verbesserungen vor. Auch die Atzmännig-Bahn verspricht, Mängel zu beheben: «Wir werden unsere Rodelbahn durch einen unabhängigen Experten überprüfen lassen und Massnahmen definieren.» Dies betreffe auch die Sturzräume. Zur Kritik, die Bahn sei zu schnell und die Schlitten hätten keine automatische Bremse, äussert sich die Atzmännig-Bahn jedoch nicht.
Die Heimwehfluh-Bahn in Interlaken schreibt, man halte die Sichtweite für genügend, weil die Schlitten einen kurzen Bremsweg hätten. Zur Kritik des Tüv, dass Baumstämme oder Felsbrocken zu nah an der Strecke sind, schreibt die Bahn: «Wir hatten noch nie Probleme damit.» Mehr Bremsschilder vor engen Kurven will die Bahn nicht aufstellen, weil die Beschilderung gemäss Behörden in Ordnung sei. Die Kronberg-Bahn in Gonten bestreitet die Kritikpunkte. Die Sichtweite sei ausreichend, und das Personal kontrolliere «mit einem Blick das Tragen der Gurten».
Die Gondelbahn Kandersteg-Oeschinensee dankt dagegen «für die wertvollen Anregungen». Zu um den Bauch gebundenen Kleidungsstücken seien «die Mitarbeiter neu instruiert und werden diesen Missstand verbessern». Die Pradaschier-Bahn in Churwalden nahm bis Redaktionsschluss gar keine Stellung.
Kontrollen sind in der Schweiz freiwillig
In Deutschland und Österreich müssen Rodelbahnen jedes Jahr von einer unabhängigen Stelle geprüft werden. Nicht so in der Schweiz: Keine Behörde ist für die Sicherheit zuständig. Das Bundesamt für Verkehr verweist an die Kantone, diese wiederum an das Interkantonale Konkordat für Seilbahnen und Skilifte IKSS. Dort heisst es: «Die Rodelbahnen werden grundsätzlich in der Eigenverantwortung der Unternehmungen betrieben.» Eine Kontrolle durch das IKSS sei freiwillig. Nur gerade die Hälfte der zehn Bahnen in der Stichprobe gab an, solche Kontrollen machen zu lassen – es sind die Anlagen in Dallenwil, Kandersteg, Kronberg, Sattel und Schongau. Die Heimwehfluh-Bahn verzichtet dagegen auf unabhängige Kontrollen. Sie schreibt: «Wir prüfen die Anlage jeweils vor der Sommersaison. Dabei ist meistens auch der Hersteller der Bahn anwesend.»
Reto Canale vom IKSS schreibt, man sei daran, eine Norm für Rodelbahnen zu erarbeiten. Diese werde man «mit grösserer Verbindlichkeit anwenden können». Selbst ohne externe Kontrollen könnten die Betreiber die Sicherheit für ihre Kunden verbessern. Dies sagt Peter Zangger, Facharzt für Neurologie und Rehabilitation in Zürich. Er hat schon Patienten betreut, die auf einer Rodelbahn eine Hirnerschütterung oder ein Schleudertrauma erlitten hatten. Zangger: «Die Betreiber sollten allen Fahrern einen Velohelm zur Verfügung stellen.»
Besondere Vorsicht bei der ersten Fahrt
Laut Gabor Piskoty, Unfall-Experte bei der Empa, ist die Unfallgefahr bei den ersten Fahrten besonders hoch. Für Anfänger sei es nicht immer möglich, die Bahn gefahrlos kennenzulernen: «Wer zu langsam fährt, hat rasch den Hintermann im Nacken.» Bei Schienenbahnen könne es sogar gefährlich sein, langsam zu fahren, weil die Kurven nach innen geneigt sind und man Gefahr laufe, aus dem Schlitten zu kippen. Bei keiner anderen Sportart müsse man gleich die ganze Strecke in rasanter Geschwindigkeit fahren, so Piskoty. Und: «Jemand, der eine Bahn nicht kennt, kann nicht einschätzen, ob er ihr gewachsen ist.» Deshalb sei es wichtig, dass die Betreiber auf die Gefahren hinwiesen.
Tipps: Rodelbahn: So vermeiden Sie Unfälle
- Tragen Sie keine losen Kleider, die unter den Schlitten geraten könnten. Verzichten Sie auf Röcke.
- Testen Sie zu Beginn der Fahrt die Bremse, um ein Gefühl für den Schlitten zu bekommen.
- Halten Sie während der Fahrt mindestens 25 Meter Abstand.
- Beachten Sie die Anweisungen des Personals und die Hinweisschilder.
- Fahren Sie nur so schnell, dass Sie bei Zwischenfällen rechtzeitig bremsen können.
- Wenn Sie langsam fahren möchten: Bitten Sie vor dem Start die nachfolgende Person um genügend Abstand.
- Stellen Sie sicher, dass Kinder im Schlitten sicheren Halt finden und die Bremse bedienen können.
- Fahren Sie hinter Ihren Kindern zu Tal.
- Verlassen Sie den Schlitten am Ende der Bahn sofort.
- Falls Sie doch einen Unfall haben: Machen Sie sofort eine Anzeige bei der Polizei.